Die vierte Impfung ist definitiv wichtig für Ältere und Vorerkrankte, bei denen eine unzureichende Immunantwort erreicht wurde.

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Ob man sich die vierte Impfung holen soll, wann und mit welchem Impfstoff, darüber herrscht immer noch viel Unklarheit. Und die wird durch unterschiedliche Herangehensweisen und Empfehlungen auch nicht klarer. Die europäische Arzneimittelagentur Ema und die EU-Gesundheitsbehörde ECDC empfehlen eine vierte Impfung für alle ab 60 Jahren. Das Nationale Impfgremium (NIG) empfiehlt diese allen ab 65 und allen Risikogruppen ab zwölf. Und zwar frühestens vier Monate nach der dritten Impfung oder einer Genesung, jedenfalls aber nach sechs Monaten.

In Wien bietet man den vierten Stich automatisch allen ab zwölf Jahren an. Die Ständige Impfkommission (Stiko) in Deutschland rät bisher lediglich über 70-Jährigen und Vorerkrankten zur vierten Dosis. Der deutsche Gesundheitsminister Karl Lauterbach wiederum plädierte Ende vergangener Woche dafür, auch unter 60-Jährige sollten eine weitere Impfung in Betracht ziehen. Das kritisierte der Stiko-Chef Thomas Mertens umgehend. Er kenne keine Daten, die einen solchen Ratschlag rechtfertigten, sagte er der "Welt am Sonntag" und fügte hinzu: "Ich halte es für schlecht, medizinische Empfehlungen unter dem Motto 'viel hilft viel' auszusprechen."

Insbesondere für jüngere, gesunde Menschen stellt sich die Frage nach dem Nutzen weiterer Impfungen, wenn der Schutz gegen schwere Krankheitsverläufe nach drei Dosen mit mRNA-Vakzinen bereits besteht – und das vermutlich langfristig gegen mehrere Virusvarianten. Einen Schutz vor Infektion bieten die bisherigen Impfstoffe zudem ohnehin nur für kurze Zeit. Experten aus dem Bereich der Immunologie beantworten noch einmal, welchen Effekt wiederholte Auffrischungsimpfungen im Detail auf das Immungedächtnis haben. Eines vorweg: Ein eindeutiger wissenschaftlicher Konsens besteht in diesen Fragen offenbar nicht.

Frage: Wie gut schützt die vierte Impfung?

Antwort: "Auch die vierte Impfung bringt keine sterile Immunität", betont Andreas Thiel, Leiter der Arbeitsgruppe Regenerative Immunologie und Altern an der Berliner Charité. "Sie führt nur zu einem vorübergehenden Schutz direkt an den Schleimhäuten, wo die Coronaviren ja in den Körper eintreten." Für ihn ist die vierte Impfung der erste richtige Booster, da ja die Grundimmunisierung aus drei Stichen besteht. Diese drei Stiche seien unbedingt nötig, auch bei Jüngeren, um länger anhaltende Antikörpertiter zu induzieren. "Der Booster bringt dann zumindest mehrmonatige starke Effekte, wie auch Studien zeigen." Thiel kennt bis jetzt keine Studien, die negative Effekte auf die Immunität bei mehrfachen Impfungen zeigen, und hält das auch nicht für wahrscheinlich. Bei der Influenza-Impfung etwa, die für vulnerable Gruppen ja jährlich empfohlen ist, seien jedenfalls keine Studien bekannt, die dadurch entstandene negative Effekte auf das Immunsystem zeigen.

Onur Boyman, Direktor der Immunologie am Universitätsspital Zürich, erklärt, dass Auffrischungsimpfungen gegen Sars-CoV-2 zu einer quantitativen und qualitativen Verbesserung des Immungedächtnisses gegen das Virus führen: "Ersteres zeigt sich zum Beispiel im Anstieg von Sars-CoV-2-spezifischen Antikörperwerten nach der Impfung. Die qualitative Verbesserung zeigt sich anhand der breiter werdenden Immunantwort. Das bedeutet, dass bei einer Auffrischungsimpfung auch neue Antikörper gebildet werden, die stärker an das Spike-Protein binden oder neue Stellen erkennen können, was auch einen besseren Schutz gegen neue Varianten mit sich bringt."

Als ernüchternd bezeichnet Andreas Radbruch, wissenschaftlicher Direktor des Deutschen Rheuma-Forschungszentrums in Berlin, die Bilanz der bisher durchgeführten vierten Impfung: "Sie deutet darauf hin, dass drei Impfungen reichen, um ein stabiles immunologisches Gedächtnis gegen Sars-CoV-2 und seine Varianten aufzubauen. Es schützt uns langfristig gegen schwere Erkrankung und Tod, aber leider nicht vor Ansteckung."

Frage: Kann man zu viel impfen?

Antwort: An sich nicht. Sind noch genügend Antikörper vorhanden, geht die Impfung aber ins Leere, sagt Thiel: "Wird in ein Immunsystem geimpft, das noch ausreichend geschützt ist, zeigen Daten, dass dann gar nicht viel passiert. Noch vorhandene Antikörper fangen den Impfstoff dann unter Umständen so effizient weg, dass nur eine geringe erneute Aktivierung des immunologischen Gedächtnisses stattfindet. Und genauso stellt man sich ja die Wirkweise des immunologischen Gedächtnisses vor." Bei jüngeren Menschen sollten deshalb, wenn sich nicht noch sehr veränderte Varianten entwickeln, Auffrischungsimpfungen irgendwann nicht mehr nötig sein, weil sie bereits eine langandauernde Immunität zum Beispiel gegen Omikron entwickelt haben. Alte Menschen und solche mit Vorerkrankungen könnten diesen Immunschutz aber irgendwann nicht mehr aufbauen.

Immunologische Risiken wiederholter Booster seien bisher nicht bekannt, erklärt der Immunologe: "Bei abfallendem Immunschutz wird das Immungedächtnis durch eine Auffrischungsimpfung reaktiviert. Ist noch ausreichend Schutz vorhanden, nimmt diese Aktivierung entsprechend ab. Die Immunität gegen einen Erreger oder eine Impfung ist im Allgemeinen aber 'gedeckelt', das Immunsystem kann sein immunologisches Gedächtnis gegen einen Erreger nicht ins Unendliche steigern." Und er weist darauf hin, dass es Einzelfälle gebe, die sich zahlreiche Male gegen Covid-19 haben impfen lassen. Selbst in diesen Einzelfällen seien keine starken Nebenwirkungen bekannt.

Allerdings wird in der Fachwelt diskutiert, dass Geimpfte, die bereits nach drei Impfungen eine gute Immunität haben, auf die vierte Impfung gar nicht mehr ansprechen. Rheumatologe Radbruch erklärt: "Das immunologische Gedächtnis steigert seine langfristige Antikörperproduktion nach jeder neuen Provokation so lange, bis es sich an dieses Antigen in dieser Dosis auf diesem Wege gewöhnt hat. Es ist dann 'satt'. Wird der Impfstoff systemisch verabreicht wie die Covid-19-Impfstoffe, fangen die Antikörper das Antigen ab, bevor es eine erneute Immunreaktion auslösen kann. Das sieht man bereits nach der vierten Impfung mit Moderna- oder Biontech-Impfstoffen. Das wird wohl auch auf viele Jüngere zutreffen, auf die fünfte Impfung werden wohl die meisten nicht mehr ansprechen. Dabei dürfte es egal sein, ob der Impfstoff an Omikron angepasst ist oder nicht, wenn man die Ergebnisse der vergleichenden Immunisierung von Affen auf den Menschen übertragen kann.

Frage: Wie viel Abstand soll zwischen den jeweiligen Impfungen sein?

Antwort: Längere Impfabstände sind besser, sagt Christian Bogdan, Direktor des Mikrobiologischen Instituts am Universitätsklinikum Erlangen und Mitglied der Stiko: "Besonders wichtig ist, dass die dritte Impfung in einem deutlichen Abstand zur zweiten Impfung stattfindet, im Idealfall nicht früher als sechs Monate. Das Gleiche gilt für eine mögliche vierte Impfung, der Regelabstand ist mindestens sechs Monate zur vorangegangenen dritten Impfung." Durch das Einhalten dieser Abstände sei gewährleistet, dass tatsächlich eine Steigerung der T- und B-Zell-Immunantwort ausgelöst wird und vorher gebildete Gedächtniszellen erneut aktiviert werden und sich in entsprechende Effektor-T-Zellen beziehungsweise antikörperproduzierende Plasmazellen umwandeln. "Impft man dagegen in eine noch laufende vorangegangene Immunantwort hinein, ist dieser Effekt stark abgeschwächt, da die Impfantigene rasch abgefangen werden. Die Devise 'viel hilft viel' gilt beim Impfen nicht."

Der Mikrobiologe betont außerdem, dass die Covid-19-Impfung allein dazu diene, schwere Sars-CoV-2-Infektionen, Hospitalisierung und Tod zu verhindern: "Bei immunkompetenten Personen ohne Vorerkrankungen wird dieses Ziel bei den momentan zirkulierenden Virusvarianten durch drei Impfungen erreicht. Weitere Impfungen bringen bei dieser Personengruppe derzeit keinen Zusatznutzen. Insbesondere lassen sich die harmlosen, erkältungsartigen Infektionen durch die Omikron-Variante damit nicht verhindern. Anders sieht es bei immunkompromittierten Personen wie betagten Menschen und Menschen mit Tumorleiden oder Transplantaten aus, die gegebenenfalls nach drei Impfungen gar keinen ausreichenden Schutz aufbauen. Hier ist eine vierte Impfung in jedem Fall ratsam." (kru, 22.7.2022)