100 Meter Hürdenlauf der Frauen bei den Olympischen Spielen 1972 in München, die nun schon 50 Jahre her sind.

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"Es gibt so viele Gründe zu laufen, wie es Tage im Jahr, wie es Jahre in meinem Leben gibt. Aber meistens laufe ich, weil ich ein Tier bin und ein Kind, ein Künstler und Heiliger." (George Sheehan)

Die ganze Laufliteratur geht mir eher auf die Nerven, aber ein Film von dem frühen Laufguru und -philosophen Sheehan hat mir gefallen, in dem er seine Definition des "common athlete" (vergleichbar mit dem gewöhnlichen Leser) gibt, als jemand, der durch "Training in seiner natürlichen Umgebung das Beste aus seiner genetischen Veranlagung herausholt", auch wenn man nicht als Eliud Kipchoge oder Stephanie Graf geboren wurde.

Auch die Überlegung, dass für die Athletin das eigene Alter dadurch irrelevant wird, weil sie wächst, wie Sheehan sagt, spricht mich in meinem Bedürfnis an, im Leben nicht abzubauen, sondern weiter zu lernen und Neues zu erreichen.

Die Befreiung nicht nur vom Alltag, sondern von der Last der Welt, das Schöne, Spielerische und Schöpferische des Laufens und die Heiligkeit der Herausforderung lassen Verbindungen aufblitzen zum Schreiben. Wenn wir nur herumsitzen, werden wir nie zu "guten Tieren", zu Kindern, Künstlerinnen, Heiligen. Aber wenn wir laufen.

Das Tierhafte

An das Tierhafte aus deinem Schreiben will ich mich heften. "Ideally I’d like to be a bird, but running is a close second", sagt der Biologe und Ultraläufer Bernd Heinrich (in einem Video, das ihn unter anderem in seiner Hütte in der Abgeschiedenheit der Wälder Maines’, in die seine Familie in den 1950ern des vergangenen Jahrhunderts emigrierte und in die er nach seinen Lehrtätigkeiten in Berkeley und Vermont wieder gezogen ist).

"The line between running and climbing and scrambling and almost feeling like you’re flying gets blurred in your mind", meint die Ultra- und Trailläuferin Rory Bosio, während die Kamera ihr durch die unendlichen Möglichkeiten der Alpen um Chamonix folgt.

Tier werden nennt Teresa Präauer ihr Buch über den Akt der Verwandlung. Laufen vielleicht also als ein solcher Akt, als Flügelschlagen, Federn, Felle, die wachsen an den Beinen, den Armen mit jedem Schritt weiter in die Landschaft.

Auch das Schreiben ist Verwandlung, von Welt und Wirklichkeit in Buchstaben, Bilder, Beschreibung, Herbeischreibung eigentlich. Für mich ist es vor allem auch der Moment der Reduktion, der mich berührt, mich selbst in die Bewegung treibt.

Alles verschwindet

Bei der letztjährigen Übertragung von Cape Epic, einem mehrtägigen Mountainbikerennen in Südafrika, hat Annika Langvad, selbst fünffache Gewinnerin des Rennens und ebenso oft Weltmeisterin im Mountainbiken, einen für mich zentralen Satz gesagt: "You just focus on your bare necessities." Alles verschwindet. Übrig bleibt reine Empfindung – das Schwingen der Arme, der Rhythmus der Beine, das Ein- und Ausatmen, das Knirschen und Knistern der Landschaften unter den Füßen.

Was mich an dieser Stelle nun reizt, ist nach den Momenten zu fragen, an denen sich der Körper in den Text, und umgekehrt, der Kopf oder der Diskurs, das Künstlerische in die Bewegung einschreiben. Tier-werden (Verwandlung?), absolute Notwendigkeit (Reduktion) und damit einhergehend reine Empfindung: Wie schreibt sich der Körper in den Text ein, wie wird das Künstlerische oder Diskursive in der Bewegung verkörpert?

Effizienzstreben

Der menschliche Körper ist fürs Laufen, auch für die Langstrecke, bestens geeignet (aufrechter Gang, Fähigkeit zu schwitzen, Gesäßmuskel, Achillessehne u. a. m. haben Tiere nicht wie Menschen), aber vielleicht liegt es wirklich am Effizienzstreben des menschlichen Geistes, dass wir das, was uns guttut, meistens vermeiden, weil es nicht nötig scheint: Bewegung oder: selbst herausfinden, was für ein Tier man ist und welche Bewegung man am liebsten machen möchte.

Immer wieder kommt es vor, dass Menschen (Männer) perplex auf meine Marathonpraxis reagieren, die Tatsache allein ist für einige motivierend, nach dem Motto: Wenn die das kann …
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Deleuze/Guattari nannten als Beispiel für ein "tatsächliches Tierwerden" Melvilles, Kafkas und anderer Schreibender die rauschhaften Züge ihres Schreibens. Ich übersetze für mich: Die Wichtigkeit des Bewusstseins infrage stellen, einen Rhythmus erlangen, den Zusammenhang mit der Welt, in der ich handle, körperlich wahrnehmen: Es gibt einen Anfang, eine Strecke (das Gelände definiert das Laufen), ein Ziel und jeden einzelnen Schritt. All das gilt fürs Laufen wie das Schreiben gleichermaßen.

Zum Tier werden und ins Gelände aufbrechen – ja; aber für mich ist es weniger ein Verwandeln als ein Zu-sich-selbst-Kommen, das Laufen. Für mich als common athlete – ich hole das Beste aus mir heraus, ohne mich mit wem auch immer zu vergleichen oder zu messen – werden soziale Konventionen, überlieferte Autoritäten irrelevant, und dies schafft Raum für das, was wirklich wichtig ist: das Leben an sich und meine Verantwortung dafür, meine Freiheit.

Ideal vom Schreiben

Sich auf den Atem konzentrieren, den Weg Schritt für Schritt zurücklegen – oder besser: einfach atmen, ohne auch das zu problematisieren, "einfach" oder nur laufen, die Leere aufsuchen, in der wiederum alles Mögliche Platz finden wird, später. Ernst Jandls Poetik Das Öffnen und Schließen des Mundes – Schreiben wie Atmen – nähert sich dieser Reduktion perfekt, auch wenn der große Dichter Jandl wahrscheinlich kein bekennender Jogger war. Vielleicht Spaziergänger?

Alles Weitere (Poesie, Plot, Personal, was auch immer) kann in diesem leeren Raum entstehen. In der Bewegung lösen sich manche Fragen "von selbst", das kennen alle, die schon einmal vom Schreibtisch aufgestanden und losgegangen oder gelaufen sind. Wenn es mir dann auch noch gelingt, wie im Laufen, in der Bewegung alles Überflüssige aus dem Text zu eliminieren, komme ich meinem Ideal vom Schreiben schon sehr, sehr nahe.

Literatur übers Laufen von Frauen ist immer noch spärlich zu finden, und weshalb habe ich eigentlich von vornherein ausgeschlossen – im Gegensatz zu sehr vielen männlichen Kollegen auch in meinem eigenen Umfeld –, das Marathontraining literarisch oder essayistisch zu begleiten? Bescheidenheit? Fehlende Selbstüberschätzung?

Immer wieder kommt es vor, dass Menschen (Männer) perplex auf meine Marathonpraxis reagieren, die Tatsache allein ist für einige direkt motivierend, nach dem Motto: Wenn die das kann … Hätte ich da nicht eine gewisse Pflicht, diese Motivation oder Inspiration literarisch, zumindest als Ratgeberin zu schüren und nebenher die Sichtbarkeit laufender mittelalter Künstlerinnen, Autorinnen zu erhöhen?

Was mich bewegt hat

Als Friederike Mayröcker vergangenes Jahr verstarb, gab es auf der Homepage des Literaturhauses Graz einen Nachruf von Klaus Kastberger. Als jemand, für den Mayröcker in der eigenen Schreib- und Lesebiografie sehr relevant war, war ich froh um den Text. Ein Satz, der mir hängen geblieben ist, lautet: "Für Mayröcker, diese faszinierende Frau in ikonenhafter Erscheinung, bestanden alle Möglichkeiten des Lebens im Schreiben."

Was mich daran so sehr bewegt hat, war die Hervorhebung der Radikalität ihrer Literatur, der Existenzialität, mit der ihr Schreiben versehen war. Unbewusst habe ich ihn augenblicklich umformuliert: "Alle Möglichkeiten des Lebens bestehen in der Bewegung." Bewegung ließe sich ersetzen oder konkretisieren, durch das Laufen etwa.

Möglicherweise geht die Formulierung zu, aber nicht allzu weit weg vom eigenen Empfinden. Du schreibst vom Zusammenhang der Welt, der sich erschließt, durch das Laufen, das Schreiben gleichermaßen. Beides sind Möglichkeiten, der Welt zu begegnen, den Wirklichkeiten, den Widerständig- und -sprüchlichkeiten. Auf den ersten Blick mag das für das Schreiben mehr gelten als etwa für das Laufen.

Impulse aus dem Sport heraus

Aber nur dann, wenn der Blick darauf an Repräsentationsmechanismen wie Selftracking, Vermessung, Leistung hängenbleibt. Demgegenüber stehen Impulse, die völlig andere Räume aufmachen, solche, in denen die Bewegung Zusammenhänge der Welt offenlegt, ähnlich wie das Schreiben.

Etwa wenn Rickey Gates sich aufmacht, jede Straße San Franciscos zu durchlaufen, um der Stadt zu begegnen, ihren Bewohner:innen, die Dynamiken einer Metropole zu erfahren – die Armut, der Reichtum, die Sehnsüchte, un- und erfüllt. Oder wenn Philipp Reiter eine Gruppe Läufer:innen entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenzen laufen und auf dem Weg mit Bewohner:innen, Museums- und Gedenkstättenmitarbeiter:innen in einen Austausch, ein Gespräch kommen lässt, Martin Johnson der Themse bis an ihre Mündung folgt, um nicht zuletzt die schwarze Geschichte Großbritanniens zu erzählen.

In der Bewegung lösen sich manche Fragen "von selbst".
Foto: APA / Tobias Steinmaurer

Und wenn wir nun schon bei den Räumen sind und denen, die sie schreiben: Katie Arnold, Rachel Swaby, Ida Keeling, Becky Wade, Molly Huddle, Sara Slattery oder Helen Mort, um nur ein paar zu nennen, sind Läufer- ebenso wie Autor:innen, die dem Diskurs vor allem auch eine weibliche Perspektive hinzufügen. Vielleicht müssten wir an dieser Stelle aber noch einmal unterscheiden zwischen den Stimmen, der Sprache aus der Literatur über Sport, Bewegung und den Impulsen, die etwa aus dem Sport selbst heraus kommen.

Sich aus dem System nehmen

Ines Geipel, Mitglied der DDR-Leichtathletiknationalmannschaft, setzte rund 30 Jahre nach der Bestzeit in der Vier-mal-100-Meter-Staffel des SC Motor Jena die Streichung ihres Namens aus der Rekordliste des Deutschen Leichtathletikverbandes durch, weil der Weltrekord innerhalb des DDR-Dopingsystems zustande kam. Sie lief zuerst einerseits gegen das Heimweh in dem Eliteinternat an, aber das Laufen war für die Jugendliche auch Befreiung aus dem autoritären Elternhaus (DDR-Topspion der Vater, nationalsozialistische Großeltern) und Schulsportsystem.

Als Hochschulprofessorin lehrt sie Deutsche Verskunst, literarisch und publizistisch setzt sie sich mit den Folgen des Nationalsozialismus in der DDR, verfemter Literatur Ostdeutschlands, Doping und Amokläufen auseinander. Beharrlichkeit war notwendig, die Streichung durchzusetzen, mit der Thematisierung struktureller Gewalt, Dopings nicht nur im historischen (DDR-), sondern auch zeitgenössischen Kontext macht sich eine in der Welt der Funktionäre, der sieges- und rekordgeilen Eventgesellschaft unbeliebt.

Sich aus dem System nehmen, wenn man gelebt wird, gelaufen wird anstatt selbst zu laufen, wenn Freiheit nicht mehr zu erlangen ist.

Wunsch nach Listen

Um alle Möglichkeiten im Schreiben, im Laufen, in welcher Betätigung auch immer (im Spiel!), wahrnehmen zu können, bedarf es der Freiheit, (sich) selbst in einem geschaffenen Raum zu leben, das Ich nicht absolut zu setzen, laufen zu lassen, um ein billiges Wortspiel zu strapazieren. Totalitäre Systeme, natürlich, verhindern das, aber auch vieles andere, was mich von mir ablenkt, auf der Stelle treten lässt, meinen Körper, meine Stimme, meine Sprache woanders hinführt, als mein Ich das will.

Ich bin eingeschlafen mit einem Blick auf deine Zeilen und aufgewacht mit dem Wunsch nach Listen. Die Western States und der UTMB gelten als zwei der wichtigsten Rennen im (Ultra)Traillaufbereich. Vergangenes Jahr fanden sich unter den Top 20 des WSER insgesamt neun Frauen, mit der Engländerin Beth Pascall auf Gesamtplatz sieben. Dieselbe Platzierung knallte auch Ultra-Legende Courtney Dauwalter 2021 in die Trails des UTMB, Unterbietung des Streckenrekords der Frauen um zwei Stunden inklusive.

Es gilt, je länger die Distanz, desto mehr und eher verschwinden beim Laufen jene Unterschiede, die im Allgemeinverständnis stets die Grundlage jeder Auseinandersetzung pro Männer im Sport darstellen.

Gleich hohe Preisgelder

Diese Auseinandersetzungen finden beinahe ausschließlich auf der Ebene der Rezeption statt, und dort vor allem von Leuten, die wenig bis überhaupt keinen Bezug zur spezifischen Sportart bzw. ganz generell zum Leistungssport haben. Noch schwieriger, als diesen Haltungen entgegenzutreten, wird es, wenn sie sich auf struktureller Ebene fortführen, was zu einem großen Teil auch weiterhin der Fall ist.

Manche Sportarten, wie etwa Biathlon, Langlauf oder eben Trailrunning, verfügen glücklicherweise über ein Selbstverständnis, zumindest in recent history, das sich bis auf die strukturelle Ebene fortsetzt.

Zum Beispiel im Biathlon werden bei Weltcupbewerben gleich hohe Preisgelder an Männer und Frauen ausbezahlt, und die Rennen finden wie im Trail- und Langlaufbereich oder im Mountainbiken zur selben Zeit am selben Ort statt. Und weil in dieser Debatte immer wieder der Verweis auf den Markt kommt – die Bewerbe werden in diesen Sportarten als ein zusammenhängendes Produkt verkauft und übertragen.

Am Beginn der Überlegungen

Gerade bemerke ich, wie das Schreiben verloren gegangen ist in den Gedankengängen, aber vielleicht ist auch das eine Erkenntnis, nämlich dass das eine möglicherweise in der Abwesenheit des anderen stattfindet, zumindest stets in einer Distanz, anders etwa als Rainald Goetz’ Methode der unmittelbaren Verschriftung oder dass wir hier einfach erst am Beginn unserer Überlegungen stehen.

Fix ist für mich ohnehin nur: Solltest du je vorhaben, einen Ratgeber übers Laufen und Schreiben zu veröffentlichen, will ich ein Exemplar davon, unterschrieben mit dem Abdruck deiner Laufschuhe. Please. (Angelika Reitzer, Christoph Szalay, ALBUM, 23.7.2022)