Altan wurde für sein Buch mit dem Prix Femina étranger ausgezeichnet.

Foto: S. Fischer Verlag

Das Leben der Menschen veränderte sich über Nacht", beginnt der türkische Schriftsteller Ahmet Altan seinen Roman. Darin erzählt er von der Angst, den Ansammlungen grobschlächtiger, bärtiger Männer, die mit Knüppeln bewaffnet ihr Unwesen treiben, von Denunziationen und der Polizei, die Menschen plötzlich abführt. Er schildert die Korruption, die einer skrupellosen neuen Unternehmerschicht Reichtum beschert. Und er schreibt von der Inflation, der Arbeitslosigkeit und der Armut.

Seinen Roman verfasste er im Gefängnis. Seit 2010 hatte er als Journalist und Verleger den islamisch-nationalistischen Kurs der Regierung Recep Tayyip Erdoğans kritisch begleitet. Mehrmals war er dafür in Haft gekommen. Im Oktober 2018 wurde er mit seinem Bruder Mehmet und weiteren Journalisten zu lebenslanger Gefängnisstrafe verurteilt. "Wir werden uns an das Kassationsgericht wenden, als gäbe es eine unabhängige Justiz", kündigte seine Tochter Sanem Altan an. In einem offenen Brief an Erdoğan forderten 44 mit dem Nobelpreis Ausgezeichnete, darunter Herta Müller und Elfriede Jelinek, die Rückkehr zur Rechtsstaatlichkeit in der Türkei und die Freilassung kritischer Journalisten.

Unter dem Titel Ich werde die Welt nie wiedersehen erschien 2018 ein Band mit Texten Ahmet Altans aus dem Gefängnis. Den vorliegenden Roman veröffentlichte er, nachdem er im April 2021 ohne öffentliche Begründung aus dem Gefängnis entlassen worden war.

Subversion durch Erotik

Im Schatten der zunehmenden Bedrohungen zieht Altan seinen Ich-Erzähler Fazýl in eine leidenschaftliche Liebesaffäre mit zwei Frauen. Der nach dem Bankrott und dem darauffolgenden Tod seines Vaters verarmte Literaturstudent bewohnt ein Zimmer in einem sechsstöckigen Gebäude, das im 19. Jahrhundert als Unterkunft für Geschäftsleute errichtet worden war und Tagelöhner aus der Provinz, Transvestiten, Rausschmeißer, afrikanische Straßenhändler und andere am Rande der Gesellschaft Stehende beherbergt.

Hayat begegnet er in einem Fernsehstudio, in dem er sich etwas Geld als Statist verdient. Wesentlich älter als er, fasziniert sie ihn mit ihren hellroten Haaren, dem "feurig goldenen Lichtkreis", der sie umschließt, und ihrer fröhlichen Unbesorgtheit dem Leben gegenüber. Fazýl erlebt einen Sinnesrausch, der ihn der Wirklichkeit enthebt und die Vorkommnisse in seinem Land als irreal erleben lässt. Mit Sýla, die eines Tages ebenfalls im Fernsehstudio auftaucht, verbindet ihn ein gemeinsames Schicksal. Auch ihre Familie ist plötzlich verarmt, nachdem ihr Vater, der Besitzer einer großen Holding, wegen angeblicher Verschwörung nachts von der Polizei überfallen und mit seiner Frau auf die Straße gesetzt wurde. Zudem studiert auch Sýla Literatur.

Die erotische Freizügigkeit seiner Romane ließ Altan zum Bestsellerautor werden. Zugleich bedeutet sie in einem Land pervertierter Moral wie der Türkei eine subversive Geste, die Anstoß erregt.

Literatur über Literatur

Ahmet Altan, "Hayat heißt Leben". Aus dem Türkischen von Ute Birgi-Knellessen. 25,70 Euro / 248 Seiten. S. Fischer, 2022
Cover: S. Fischer

Was den Roman auszeichnet, ist seine Vielschichtigkeit. Da ist die Ebene der Leidenschaft, Hingabe und Liebe, die Fazýl mit den beiden Frauen verbindet. Die Vorliebe Hayats für Dokumentarfilme verleiht symbolträchtige Einblicke in eine Palastrevolution von Ameisen und politische Kämpfe von Affen, die Bananen austeilen, um Anhänger zu gewinnen.

Zunehmend in den Vordergrund drängt die politische Ebene, auf der Fazýl Zeuge wird, wie der Transvestit Gülsüm blutig geschlagen und mit zerrissenen Kleidern in die Unterkunft geschleift wird, wie der "Dichter" genannte, kritische Journalist sich vom Balkon in den Tod stürzt, um seiner polizeilichen Festnahme zu entgehen, und wie das Fernsehstudio von der Polizei gestürmt wird.

Schließlich verhandelt Altan auch sein eigenes Handwerk, die Literatur. Er betont die Liebe seines Protagonisten zur Literatur und lässt ihn die Vorlesungen von zwei provokativen Literaturwissenschaftern besuchen, die nicht dozieren, sondern Fragen aufwerfen und ausführen, welchen Mut Literatur verlangt. Und er legt ein Plädoyer für die Literatur ab: "Mithilfe der Schriftsteller finden wir in der Literatur Facetten unseres eigenen Lebens, die uns vorher nicht bewusst waren." (Ruth Renée Reif, ALBUM, 24.7.2022)