Zwischen den Trümmern seiner Kindheit sitzt Sledak. Neben ihm: sein zehnjähriges Ich. Der Bub auf dem Foto lächelt und liest ein Buch. Der Erwachsene aber hält eine Waffe. Der Sohn wird von seiner Mutter gestreichelt, es war im Herbst vor zwölf Jahren. Den erwachsenen Sledak streichelt niemand hier im Sommer in Pitomnik, einem Dorf nördlich von Charkiw, knapp an der russischen Grenze. Das Haus, in dem er aufgewachsen ist, in dem zeitweise die Russen hausten, ist jetzt ein Außenposten seiner Truppe: Asow.

Asow-Kämpfer Sledak, 22, im Wohnzimmer seines von den Russen zurückeroberten Hauses in Pitomnik. Das Poster zeigt den damals Zehnjährigen mit seiner Mutter.

Foto: Antoni Lallican

Durch das großformatige Foto, die Momentaufnahme einer glücklicheren Vergangenheit, geht ein langer Schlitz: Mit einem Messer haben die Russen die Oberkörper von Mutter und Sohn zerschnitten. Sie haben das Wandbild im Wohnzimmer liegen lassen, an das Sofa angelehnt, als Willkommensgruß: "Wir kriegen euch."

Die Katzen sind tot – ebenfalls durch ein Messer. Eine hängt in einem Plastiksack, die andere hat Sledak mit einem Pullover zugedeckt. Sie liegt im oberen Stock auf dem Teppichboden neben dem Computer.

Sledaks Mutter, die ihn als Kind liebkoste, ist jetzt in Bulgarien. "Töte sie!", soll sie ihm gesagt haben. Sie – das sind die Russen. Töten – das macht Sledak mit seinem engsten Freund Rijs. "Sledak", der Detekiv. "Rijs", der Luchs. Spitznamen, Rufnamen, Kampfnamen – echte Namen gibt es im Krieg nicht. Man weiß nie, wer zuhört. Der 22-jährige Sledak war bis Februar Kadett an der Polizeiakademie – deshalb Detektiv.

Das eigene Haus bombardiert

Im vergangenen Februar, als Putin zum Angriff bläst und die Panzer auf sie zurollen, wollen die beiden kämpfen und landen beim ukrainischen Militärgeheimdienst GUR. Dann wechseln sie zu den "Kraken" – einer Spezialeinheit des Asow-Regiments. Sledaks Heimatdorf Pitomnik wird vom Feind eingenommen, die Russen erreichen die Tore der Millionenstadt Charkiw. Es hagelt Bomben, die Stadt droht im Terror unterzugehen.

Dann, Ende April, startet das Asow-Regiment in Kooperation mit der ukrainischen Armee eine spektakuläre Gegenoffensive. Der Detektiv und der Luchs sind mit dabei. Sie kennen keine Gnade, auch nicht gegenüber sich selbst. "Ich habe unserer Artillerie freiwillig die Koordinaten meines Hauses gegeben. Freiwillig", betont Sledak. Ein Bekannter hatte ihm verraten, dass die Russen dort Stellung bezogen hatten.

Es hat sich gelohnt: Sledak kann mit der Truppe seinen Heimatort befreien. Das Haus steht noch – teilweise. Er verlässt das Sofa, den Moment der Ruhe und Trauer und geht die Treppe hoch. Vorbei an Familienbildern, den toten Katzen, ins alte Schlafzimmer. Vorbei an Patronen, Kleidungsstücken, Waffen und einer kleinen Spendenbox, die seine Kameraden zum Spaß aufgestellt haben.

Oben angekommen, sind weitere Mitglieder der Kraken dabei, mit einem Brecheisen den Fensterrahmen herauszureißen. Andere versehen eine Drohne mit einer Sprengladung. Das Fenster ist raus, die Drohne fliegt Richtung Waldrand, 800 Meter bis zum Feind.

Der Krieg findet nun auf dem Bildschirm statt: Die jungen Soldaten haben die Russen erspäht, die Drohne wird über den Ahnungslosen im Schützengraben positioniert. Der rote Knopf wird gedrückt, die Explosion ist zuerst auf dem kleinen Bildschirm zu sehen. Dann ist sie durch den offenen Fensterrahmen zu hören. Boom. So kämpfen wir bei Asow, erklären die beiden. Schnell, effizient, furchtlos. Das zerstörte eigene Haus: "Ein kleiner Preis für die Freiheit", sagt Sledak.

Der Hang zu rechtsextremer Symbolik und Ästhetik, gepaart mit unbedingtem Zusammenhalt und Entschlossenheit im Kampf. "Ein anderes Volk auslöschen – das wollen die anderen, die Russen."
Foto: Antoni Lallican

Über Politik reden die beiden wenig, weder untereinander noch im Interview. "Bei uns kämpft auch ein Muslim, Spitzname Ararat", sagt Rijs, der Luchs. Patrioten seien sie alle, natürlich. Nationalisten, ja. Keine Nazis. "Ein anderes Volk auslöschen – das wollen die anderen, die Russen", sagen sie.

"Thor mit uns"

Nach ihrer Mission laufen sie zum Auto, 300 Meter durch den Wald. Es dauert eine Ewigkeit. Wenn man so nah am Feind ist, kann man unmöglich erkennen, ob ein Knall bedeutet: Wir schießen oder die anderen. Bei jedem Geräusch halten sie inne. Dann ab in den tarngrünen VW Caddy, das "Kraken-Mobil", 15 Kilometer zurück nach Charkiw. Am Abend wollen sie schwimmen gehen und ein paar Granaten werfen, zum Trainieren. Die Laune ist gut, der Tag ein Erfolg: Sie leben.

Auf ihren Armen prangt Thors Hammer. "Thor mit uns" steht da in Runenschrift. Aus den Boxen tobt ein Loblied auf den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj. "Du bist der Einzige, der das Volk vereinen konnte", sagt die Stimme, und: "Fick sie, Wowa!" Sledak und Rijs wippen begeistert mit. Das ist die Ukraine nach knapp 150 Tagen Krieg. Ein jüdischer Präsident motiviert junge Asow-Kämpfer mit einem Faible für Germanenkult. "Das Leben ist kurz", sagt der Luchs.

Um die Politik kümmert sich ihr Kommandant. Er heißt Konstantin Nemitschew. Markantes Kinn, bullig, Charkiw durch und durch. Früher Fußball-Hooligan des Vereins Metallist, Asow-Kämpfer der ersten Stunde, seit 2014. In den Folgejahren Politiker, Bürgermeisterkandidat bei den Wahlen im Oktober für den Nationalen Korps, dem politischen Arm von Asow. Die Regimentspartei, quasi. Er scheitert mit fünf Prozent.

Dann kommt Putins Invasion, Nemitschew wechselt wieder Zwirn gegen Uniform ein. Das gelbe Logo Asows – das wie die SS-Wolfsangel aussieht, von dem sie beteuern, es seien lediglich die Anfangsbuchstaben der "Nationalen Idee" – prangt auf seiner Schulter. "Das ist ein russisches Narrativ, eine Erfindung, um uns zu diffamieren", sagt er über die Nazi-Vorwürfe. "Alle Ethnien und Religionen sind bei Asow willkommen. Alle, die für die Ukraine kämpfen." Und die russischsprachige Bevölkerung? "Dass wir diese Menschen unterdrücken, das ist eine Lüge. Ich bin ein russischsprachiger Ukrainer. Die Russen dachten, sie werden mit Blumen empfangen. Aber es gibt hier nur Waffen."

Auf der Abschussliste

Wie viel Prozent Nemitschew heute bei einer Wahl erhalten würde, kann man nicht sagen – auf jeden Fall mehr als fünf. Wahrscheinlich weitaus mehr. Asow ist überall, in aller Munde, im Internet, auf den Straßen. Warum? Wegen der langen Schlacht um Mariupol. Wegen der Kämpfer, die nun in russischer Gefangenschaft sind. Asow sind die, die nicht aufgeben.

In Russland steht Nemitschew ganz oben auf der Abschussliste: Am 29. März behauptete der russische Abgeordnete und General a. D. Wladimir Schamanow vor der Duma, die Spezialeinheiten der Speznas hätten Nemitschew und seinen Vizekommandaten, Serhij Welikow alias Chilli, festgenommen. "Diese Bastarde sind Nazis aus einer Fangruppe des örtlichen Fußballvereins Metallist. Jetzt sind sie auf den Knien und flehen um Gnade", so Schamanow. Es waren Fake News, die Nemitschew nun in die Hände spielen. "Jetzt schreiben mir sogar viele Menschen aus Russland, die unsere Sache unterstützen", sagt er.

Konstantin Nemitschew, ein Asow-Kommandant, in den Ruinen des zerbombten Gouverneurspalasts von Charkiw: "Die Russen dachten, sie werden mit Blumen empfangen. Aber es gibt hier nur Waffen."
Foto: Oleksandr Magula

Der ganze Wirbel um Asow hat dafür gesorgt, dass die Zahl der Kämpfer rasant zunimmt. Vor Februar wurde die Truppenstärke auf 2500 Mann geschätzt. Wie viele es heute sind, will Nemitschew nicht sagen. Allein die Kraken in Charkiw seien über 1800 Mann stark. Dazu kommen Spezialkräfte, Infanterie, Artillerie, ein eigener Nachrichtendienst und Freiwilligenbataillone an mehreren Fronten im ganzen Land.

Mittlerweile haben sie sogar eigene Panzer: nicht von Europa oder den USA, sondern von ihrem Feind. Viele wie Sledak und Rijs, die sich vorher weder für Politik noch Krieg interessiert hatten, gehen lieber zu Asow als zur normalen Armee. Sie kommen, weil sie in ihrer Heimatstadt und mit ihren Freunden kämpfen können. Viele kennen sich von früher, vor allem aus dem Hooligan-Umfeld. Sie kommen wegen der Moral, des Kampfgeists, vielleicht auch des Ruhmes wegen. Wobei: Wer in die Gesichter der jungen Männer Anfang 20 blickt, Gesichter, die gelernt haben, was es heißt, ein Leben zu nehmen, der weiß: Es gibt nichts Rühmliches am Krieg. Rijs und Sledak klagen von Schlafproblemen, von Traumata, machen aber weiter. "Bis zum Tod."

"Das Land ist aufgewacht"

Nemitschew spricht in den Ruinen des zerbombten Gouverneurspalasts, doch er hat eine Vision für die Zukunft. "Als die Wohnungen der Menschen von Raketen getroffen wurden, ist das Land aufgewacht", sagt er. Er will die Ukraine weder als Teil der EU noch der Nato. Er sieht eine Union mit Polen, Estland, Litauen. Länder, die im Kampf gegen Russland entschlossen vereint sind. Der Krieg und die Frage nach dem Danach dominieren in der Ukraine alles. Politik, Medien, Gesellschaft.

Die zwielichtige Vergangenheit Asows, sie scheint keine Rolle zu spielen. Dabei gibt es sie: Vorwürfe von Menschenrechtsverletzungen, Misshandlung von Kriegsgefangenen, Angriffe auf Sinti und Roma. Die USA wollten die Gruppe einst auf die Terrorliste setzen.

Heute präsentiert sich Asow bedachter, vorsichtiger. Die Aufmachung, die Präsenz in den sozialen Medien: hochprofessionell. Die hohe Anzahl neuer Mitglieder, die nichts mit dem politischen Kader zu tun haben, sowie die vielen Heldengeschichten haben dazu geführt, dass Asow in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist.

Auch wenn das Regiment formell dem Innenministerium unterstellt ist, auch wenn Kiew die Gehälter zahlt: Asow fährt keineswegs auf Regierungslinie, agiert oft aus einer autonomen Machtposition heraus.

Nemitschew selbst schlägt gemäßigte Töne an. Die wichtigste Lektion des Krieges hätten die Ukrainer bereits gelernt: "Zusammenhalt. Nur so sind wir stark, und nur so können wir das Land wieder aufbauen."

Zurück an der Front. Zur Artillerietruppe, die Sledaks Haus auf dessen Wunsch hin ins Visier genommen hat, gehören Kusja und Punf. Ihre Haubitze haben sie gestohlen: von Russland. Jetzt feuert die Kanone auf jene Soldaten, die sie gebracht haben.

Kusja führt die kleine Einheit an, Punf feuert die Geschosse ab. Ihr Auftreten ist ungewöhnlich für den Krieg: wie Hipster. In westlichen Großstädten würde sich keiner nach ihnen umdrehen. Kusja trägt einen gepflegten Schnauzer, nimmt seine silberne Analogkamera immer mit. Den Krieg hält er dort fest, 35-mm-Film, Schwarz-Weiß. Unzensierte Eindrücke eines Asow-Kämpfers, 22 Jahre alt. Die Russen wissen von ihm: Wie Kommandant Nemitschew ist auch sein Name auf einer Fahndungsliste aufgetaucht.

Kusja zuckt mit den Schultern. Er und sein Kumpel seien normale Burschen. Kusja spielt Rugby, Punf liebt das Bogenschießen. Punfs Mutter ist Krankenschwester, jetzt auch in der Armee. Sein Vater? "Ein Arschloch", sagt er. Normale Probleme eben.

Wenig Lust auf "Bombass"

Während ihre Kameraden Sledak und Rijs in den Donbass versetzt werden – der Asow-Effekt soll auch dort für eine Kehrtwende sorgen –, sind die beiden in Charkiw geblieben, zunächst einmal. Punf hat wenig Lust auf "Bombass". "Deshalb bin ich 2014 nicht Soldat geworden", sagt er. Damals konzentrierte sich der Konflikt auf den Osten des Landes; Russland war nur marginal ein Thema. "Ich will nicht für diese Leute sterben, die Däumchen drehen und auf Putin warten."

Bei Asow machen sie sich keine Illusionen: Es gibt Ukrainer, die sich Russland zugehörig fühlen. "Dieses Mal ist trotzdem alles anders. Es geht ums Ganze. Wenn sie mir befehlen zu gehen, gehe ich." Einmal Asow, immer Asow.

Kusja (li.) und Punf feuern bei den Kämpfen mit einer von den Russen gestohlenen Haubitze auf die Invasoren. Im Zuge der Rückeroberung des Dorfs Pitomnik wurde auch das Haus von Asow-Kämpfer Sledak (Bild unten) – mit dessen Zustimmung – unter Beschuss genommen. Jetzt befindet sich dort ein Asow-Außenposten.
Foto: Oleksandr Magula

Kusja und Punf bezeichnen sich offen als rechts. Die Interessen der Ukraine seien schließlich auch die der Menschen. Zehntausende sind schon gestorben. Eine Titulierung als "Nazi" lehnen sie aber ab: Die Russen, das seien die ideologischen Nazis, getarnt mit sowjetischer Ästhetik.

Der Krieg hat sie in ihrer rechten Einstellung nicht extremer oder radikaler gemacht. Eher im Gegenteil. Beispiel: Ganz der typische Hipster, produziert Kusja T-Shirts mit seinem eigenen Logo: einem eingerahmten Totenkopf. Der erinnert zwar an eine SS-Division, ist angeblich aber nur ein Piratenlogo. Vergangene Woche hat er an einen Hooligan von Arsenal Kiew ein solches Exemplar verkauft. Der HoodsHoodsKlan von Arsenal ist die einzige linke Hooligan-Gruppe in der Ukraine. Der Klan hat eine eigene Einheit, kämpft ebenfalls. "Der Krieg kreiert ungewöhnliche und unübliche Freundschaften", sagt Kusja. In Charkiw würden sie ab und zu auch mal mit Antifaschisten ein Bier trinken. "Früher war das unmöglich."

Der Hang zu rechtsextremer Symbolik und Ästhetik ist trotzdem da, der Totenkopf nicht das einzige Beispiel. Punfs Arme sind mit Tattoos dekoriert. Zwischen den farbigen Bildern, Schnörkeln und den US-amerikanischen Cartoon-Charakteren von Adventure Time schwebt ein rotes Logo. Ein Hakenkreuz. Auf seinem Finger prangt ein "S". Der gleiche Stil wie der der Sturmstaffel. Darüber kann Punf nur lachen. "Das Hakenkreuz ist ein altes Symbol, viel älter als die Nazis, und das ‚S‘ ist eine Sonnen-Rune. Wir stehen auf die alten Sachen. Auf germanische, slawische Tradition. Das sind unsere Vorfahren."

Was wirklich dahintersteht, wissen nur die Kämpfer selbst. Sicher ist: Wenn die Russen ihn kriegen, würden sie die Tattoos fotografieren und veröffentlichen – so wie sie es mit seinen Kameraden gemacht haben. Sie würden sich bestätigt fühlen in der Vorstellung, die Ukraine zu "entnazifizieren". Für Punf eine akzeptable Aussicht.

Kämpfen, jung sterben

Alle jungen Asow-Kämpfer haben Zweifel daran, dass sie lange leben werden. Das ist es ihnen wert. Wie sehr, zeigt folgende Geschichte: Nach ihrer Versetzung in den Donbass bricht der Kontakt zu Sledak und Rijs ab. Nach ein paar Wochen laden sie ein neues Video hoch. Brutale Kämpfe im Donbass, Feuergefechte aus nächster Nähe. Am Ende nehmen sie zwei russische Soldaten gefangen. Sledak postet das Video, dazu schreibt er: "Deshalb waren wir eine Weile unerreichbar. Das ist unsere Arbeit. Denkt darüber nach, wenn ihr in einem fremden Land sitzt und Bier trinkt."

Eine klare Botschaft an die geflohenen Landsleute. Sledak und seine Kameraden werden nie fliehen. Sie sind Teil einer neuen Generation – aufgewachsen zwischen Krieg und Tod, zwischen Techno und Thor, zwischen Jugendträumen und Analogfotos. Es ist die Generation Asow. (REPORTAGE: Philip Malzahn aus Charkiw und Pitomnik, 23.7.2022)