Sex in möglichst vielen verschiedenen Variationen: Schauspielerin Dorothee Hartinger inmitten der Fleischeslust.

Foto: Rudi Gigler

Die zentrale Szene wird gleich zweimal gespielt. Zuerst so, wie sie in Arthur Schnitzlers Skandalstück geschrieben steht: Eine junge Frau hinterfragt die Liebe ihres Mannes. Dieser flüchtet sich in selbstgerechte Ausreden für seine vor- und außerehelichen Abenteuer, während sie das unschuldige Dummchen gibt. Eine Szene, die die scheinheilige Sexualmoral des Fin de Siècle wie unter dem Brennglas zeigt – weswegen sie Schnitzler auch in die Mitte seines Sexkarussells gestellt hat.

Im zweiten Anlauf wechseln Marthe Lola Deutschmann und Sebastian Wendelin den Tonfall, der gespreizte Duktus weicht heutigen Worten: "Wir sollten ehrlich sein, wir wollen auch mit anderen schlafen", sagt die Frau, während ihr Mann etwas verstört blickt: "Ich habe Angst", presst dieser hervor.

Es ist und bleibt die einzige Szene in dieser Reigen-Neufassung von Regisseur Franz-Xaver Mayr, die nicht im Geschlechtsakt ihren Höhepunkt findet: "Mir ist jetzt nicht danach", sagt der junge Gatte, der sich in der darauffolgenden Szene über ein "süßes Mädel" hermacht. Lustfördernd ist Ehrlichkeit nicht.

Von der Bühne verbannt

100 Jahre nachdem Schnitzler seinen skandalträchtigen Reigen von der Bühne verbannte, steht jede Inszenierung vor einem Dilemma: Die Werte und Begriffe, die die bürgerliche Gesellschaft rund um den körperlichen Vereinigungsakt und das Konzept von Liebe angehäuft hat, sind brüchig geworden, die Geschlechterverhältnisse haben sich verändert, soziale Hierarchien wurden aufgeweicht.

Letztere interessieren den 1986 in Hallein geborenen Regisseur denn auch gar nicht. Mayr inszeniert den Reigen als serielles Spiel rund um einen mechanischen Akt – allerdings in beinahe unüberschaubar vielen Varianten. Der Soldat des Anfangsdialogs trifft nicht auf eine Dirne, sondern gleich auf zehn unter gespenstischen Mantillen verborgene Sexarbeiter und Sexarbeiterinnen. Das Stubenmädchen Marie kokettiert mit einer Frau, in der zweiten Szenenhälfte werden aus den beiden Männer. Eine Szene wird als Erzählung vorgetragen, eine andere als Schauspielprobe in unterschiedlichen Besetzungen (des Grafen) gegeben. Schildert Schnitzler einen aus heutiger Sicht nicht einvernehmlichen Sexualakt, zieht der Regisseur sofort eine Metaebene eine: "Was war in dem Wein?"

Sex als schaurige Notwendigkeit

Nur der Akt selbst bleibt wie in Schnitzlers Stück von 1897 (dort wird er bekanntlich durch Gedankenstriche evoziert) immer irgendwie gleich: Die Gliedmaßen der Schauspieler verrenken sich, und es entfährt ihnen ein schaurig-gepresstes Stöhnen und Röcheln. Sex als lustlose Notwendigkeit in einer sterilen, allem Beiwerk abholden Umgebung.

Korbinian Schmidt hat für diesen Konzept-Reigen, der im Rahmen der Salzkammergut-Festwochen Gmunden in Kooperation mit dem Landestheater Niederösterreich Premiere feierte, einen weißen Glaskubus in das Stadtheater Gmunden gebaut. Die Jahrhundertwendestimmung ist einer aseptischen Deklination von Sexvarianten gewichen.

Oder anders gesagt: Diesen Reigen kann sich auch die Generation Wokeness anschauen, ohne ihn gleich canceln zu wollen. Viele – vor allem sprachliche – Nuancen des Stücks gehen zwar verloren, dafür gelingt in Gmunden ein heutiger Blick auf einen Akt, der schon lange nicht mehr Liebe genannt wird. (Stephan Hilpold, 25.7.2022)