Anna Burns’ Roman "Amelia" ist sprachlich unprätentiös, eindringlich und elegant.

Foto: Eleni Stefanou

Die Unruhen begannen an einem Donnerstag. Um sechs Uhr abends. Und sieben ganze Tage später, Amelia zählte mit, konnte sie kaum glauben, dass sie tatsächlich immer noch im Gange waren." So beiläufig beginnt in Anna Burns’ Roman Amelia der gewalttätige Nordirlandkonflikt. Wir schreiben das Jahr 1969, und das Mädchen Amelia wohnt mit seiner Familie in einem katholischen Viertel im Belfaster Norden.

Amelia gewöhnt sich schnell an den Kampflärm, versucht bei jeder hochgehenden Bombe einzuschätzen, wo sie gewesen war. Ihre Freundin ist weniger zimperlich. Lizzie "vernichtete einfach jedes Bauwerk in Belfast, dann schlug sie vor, als Nächstes zu raten, wer erschossen worden war".

Die Unruhen, die sie erlebt

Als Anna Burns 2018 für Milchmann den wichtigen Booker Prize erhielt, wurde das Buch zum Bestseller. Auf über 400 Seiten erzählte Burns dicht und schillernd von den "Unruhen" zwischen Protestanten und Unionisten. Als sie es verfasste, war Burns auf Essensausgaben angewiesen. Jahrzehnte hatte die 1962 in Belfast geborene Autorin wenig Erfolg, Milchmann änderte das. Mit Amelia wurde ihr Romandebüt nun ins Deutsche übersetzt. Die Unruhen, die sie selbst erlebt hat, sind ihr literarisches Lebensthema.

Der Roman beginnt mit Amelia Lovett als Schulmädchen, das den Konflikt mit naiven Augen wahrnimmt. So sammelt sie die Gummigeschoße der britischen Soldaten wie einen Schatz. Im Jahresrhythmus schieben sich die Kapitel voran. Noch vor Seite 100 schmust Amelia in den örtlichen "Trinkschuppen". Burns wirft Jahr um Jahr Schlaglichter auf die Entwicklungen, dazwischen belässt sie Leerstellen. Auch Wechsel in der Perspektive spielen mit Kontinuitäten und Brüchen: Plötzlich erblicken wir Amelia durch die Augen von Schwägerin und Bruder als Magersüchtige.

Gedichte über den Frieden

Burns’ direkte, die allgegenwärtige Gewalt in ungeschönter Nüchternheit wiedergebende Art zu erzählen macht ihre Figuren mit wenig Aufwand sehr plastisch. Burns beschreibt nie sensationslüstern, aber mit markanten Details. Über Getötete berichten die Zeitungen "pflichtschuldig irgendwo auf den hinteren Seiten". Als die Kinder in der Schule Gedichte über den Frieden schreiben sollen, können sie dem nichts abgewinnen: "Warum über etwas schreiben, das niemanden interessierte?" 1973 tritt die IRA erstmals auf den Plan, später fährt sie in Schnapslastern Dynamit herum. Junge Desperados schießen einander beim Roulette in die Knie.

Die Unruhen treten zugleich in den Hintergrund. Amelia ist ebenso sehr ein Entwicklungsroman wie soziales Porträt. Arm, ungebildet und glücklos, wie die Figuren sind, widerfährt ihnen auch ohne Bürgerkrieg genug Beklagenswertes.

Diese Dumpfheit

Es sind Menschen, die kaum zusammenhängend sprechen können. Wenn die Frauen wegen des Bombenalarms nichts zum Essen einkaufen konnten, kann es für sie zu Hause schon mal ungemütlich werden. Die Dialoge bezeugen diese Dumpfheit in einem umgangssprachlichen Slang.

Amelia entflieht diesem patriarchal geprägten Leben Richtung London, so wie es einst Burns getan hat. Die Absurditäten dieses Buches sind bitterer Ernst eines lange dauernden Ausnahmezustands. In Milchmann finden sich viele Motive später stärker ausgearbeitet. Anna Burns schreibt aber schon hier unprätentiös, eindringlich und elegant. (Michael Wurmitzer, 26.7.2022)