Eine schwarze Wegameise trinkt, malerisch in Szene gesetzt, von der Blüte eines Fingerhuts.

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Noch folgt in der kleinen Ameisenkolonie alles seinem gewohnten Lauf: Die meisten Arbeiterinnen halten sich in ihrem provisorischen Nest auf. Sie kümmern sich um die Brut, denn die Eier und Larven müssen ständig versorgt sein, während einige Ameisen als Kundschafterinnen die neue Umgebung erkunden, in die man sie eben gesetzt hat. Unter ihren trippelnden Beinen spüren die Ameisen bereits, wie sich die Temperatur langsam erhöht, doch noch gehen sie ungerührt ihrem Geschäft nach.

Erst als der Boden noch heißer wird, bricht Unruhe aus. Die Arbeiterinnen flitzen aufgeregt im viereckigen Glaskasten herum, bis plötzlich – wie auf ein unhörbares Kommando – alle Ameisen eine säuberliche Reihe bilden, die Brut schnappen und das Nest evakuieren. Nachdem die Bodentemperatur wieder abgesunken ist, findet die Kolonie zur Normalität zurück. Sie verschanzt sich im neuen Bau, der in der gegenüberliegenden Ecke ihrer Glasarena liegt.

Doch wer gab den Befehl zum Umzug? Wer schafft an im Ameisenstaat? Etwa die Königin? Immerhin ist sie oft die größte Ameise der Kolonie, die darüber hinaus noch Eier legen kann. Doch ihr herrschaftlicher Name täuscht: Die Königin hat nur einen beschränkten Einfluss. Die großen Entscheidungen im Ameisenhaufen treffen hingegen alle – und niemand.

Entscheiden im Kollektiv

Der Ameisenstaat entscheidet kollektiv und verhält sich wie ein einzelner, großer Organismus. Forscherinnen und Forscher um Daniel Kronauer von der Rockefeller Universität in New York (USA) haben nun herausgefunden, dass Ameisenkolonien dabei einem Netzwerk aus Gehirnzellen ähneln, die zusammen Aufgaben bewältigen können, zu denen sie einzeln nicht in der Lage wären.

Kambodschanische Ameisen transportieren die Brut ihrer Kolonie.
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Wie ein menschliches Gehirn muss ein Ameisenstaat dauernd Entscheidungen treffen: Welcher Ort eignet sich zum Nestbau, ist die Beute leicht zu überwältigen, wer ist ein passender Partner zur Fortpflanzung? Die meisten dieser Entscheidungsprozesse lassen sich auf eine Kosten-Nutzen-Rechnung zurückführen. Wenn etwa eine Katze befindet, dass es die angebotenen Leckerlis nicht wert sind, ihren wohlverdienten Schlummer auf dem Kratzbaum zu unterbrechen, wird sie auch kein lautstarkes Schütteln der Futterschachtel dort hinunterbringen.

Flexibler Schwellenwert

Ähnliches gilt für die Ameisenkolonie: Sie muss entscheiden, ab welcher Temperatur die aufwendige Evakuierung des Nests, samt ihren Risiken, notwendig ist. Der Ameisenstaat muss also einen Schwellenwert festsetzen, ab dem der Nutzen des Umzugs seine Kosten überwiegt. Doch wovon hängt diese Temperatur ab – und wie einigen sich die Ameisen auf einen Wert?

Um diesen Fragen nachzugehen, setzten Kronauer und sein Team Ameisenkolonien aus je 36 Arbeiterinnen und 18 Larven in Glasbehälter, deren Boden mit Heizelementen versehen waren. Sie versahen jedes einzelne Insekt mit einem Farbcode, der es einer Kamera mit spezieller Software erlaubte, die Bewegungen der Tiere zu verfolgen. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass die Ameisen ihr Nest evakuierten, wenn die Bodentemperatur 34 Grad Celsius überschritt.

Spannend ist aber, dass dieser Schwellenwert von der Koloniegröße abhängt: Als die Forscher Ameisenstaaten mit bis zu 200 Tieren untersuchten, mit demselben Verhältnis von Arbeiterinnen zu Brut, brachte sie erst eine Temperatur von mehr als 36 Grad Celsius zum Umziehen. Größere Kolonien halten also signifikant höhere Temperaturen aus.

Emergente Eigenschaften

"Offenbar ist die Schwellentemperatur nicht fix. Ihr Wert ist eine emergente Größe, die von der Koloniegröße abhängt", sagt Kronauer. Damit liefert der Wissenschafter das entscheidende Stichwort: Emergenz. Keine der Arbeiterinnen weiß, wie groß ihre Kolonie ist: Sie fühlen nur die Temperatur. Nur das Ameisenvolk als Ganzes setzt eine Schwellentemperatur und handelt dementsprechend. Gewissermaßen ist die Kolonie mehr als ihre Einzelteile.

Solche Emergenzphänomene sind in der Natur häufig anzutreffen. Das naheliegendste befindet sich wohl in unserem Kopf: Aus unzähligen vernetzten Neuronen mit vergleichbar einfachen Fähigkeiten entsteht das Bewusstsein. Analog dazu funktioniert der Ameisenstaat: Die komplizierte Kommunikation über Pheromone, spezielle Duftstoffe, erlaubt es der Kolonie, über ihre Bestandteile hinauszuwachsen.

Waldameisen haben riesige Kolonien, die unzählige Aufgaben erfüllen, ohne dass jemand das Kommando führt.
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Die Wissenschafterinnen und Wissenschafter von der Rockefeller Universität konnten ein mathematisches Modell entwickeln, das diese Prozesse erfolgreich beschreibt. Kronauer: "Unser Ansatz versteht die Ameisenkolonie ähnlich einem kognitiven System, das gewisse Inputs bekommt und in entsprechendes Verhalten übersetzt." Die Entscheidungsprozesse der Ameisen ähneln also denen von neuronalen Netzwerken – ob biologischen oder synthetischen.

Offen bleibt aber die Frage, wieso die Schwellentemperatur bei größeren Kolonien höher ist. Kronauer vermutet, dass die Kosten für die Evakuierung eines großen Ameisenvolks höher sind und die Ameisen daher länger abwarten. Weitere Untersuchungen sollen andere Einflussfaktoren klären und das theoretische Modell verbessern. Der Ameisenstaat könnte so dazu beitragen, Emergenzphänomene besser zu verstehen. (Dorian Schiffer, 26.7.2022)