Schneebrettlawinen fordern unter allen Lawinentypen die meisten Todesopfer. Schneebretter können entstehen, wenn eine dichte Schneeschicht auf einer stark ungebundenen Schwachschicht liegt. Setzt sich eine Lawine in Bewegung, etwa durch einen Skifahrer, bricht die Schwachschicht ein und das Schneebrett verliert seinen Halt. Wie der Bruch sich ausbreitet, war bisher allerdings nur teilweise verstanden. Wissenschafterinnen und Wissenschafter der Schweizer ETH Lausanne (EPFL) und des Lawinenforschungsinstituts SLF ist mit neuartigen Computersimulationen nun ein Durchbruch beim Verständnis der Entstehung von Schneebrettlawinen gelungen.

Genauere Vorhersagen

Die neuen Erkenntnisse sollen den Weg ebnen für eine effektivere Risikovorhersage. Vereinfacht gesagt fanden die Lawinenforscher heraus, dass schon ab einer Anrissgröße von wenigen Metern die Lawine allein durch das Gewicht des Schneebrettes entsteht. "Wenn die Ausbreitungsdistanz eine bestimmte Länge von rund drei bis fünf Metern überschreitet, wird die Zugkraft des Schneebretts zum einzigen Antrieb des Vorgangs", berichten die École polytechnique fédérale de Lausanne EPFL und das WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung SLF.

Die erwähnte Zugkraft entsteht dabei durch die Masse des Schneebretts und die Schwerkraft. Der Vorgang führt zu einem Bruch der unter dem Schneebrett liegenden Schwachschicht durch Scherung. Der Vorgang ähnelt dem Bruch, der bei seltenen Erdbeben großer Magnitude zu beobachten ist, dem sogenannten Supershear-Ausbreitungsmodus.

Der Snowboarder Mathieu Schaer entgeht nur knapp einer Schneebrettlawine.
Foto: Ruedi Flück

"Revolution in einem Nischenbereich"

Die Ergebnisse wurden gerade erst von der Fachzeitschrift "Nature Physics" veröffentlicht. Die Entdeckung möge als "kleine Revolution in einem Nischenbereich" erscheinen, schrieben die Lawinenforscher. Sie offenbare jedoch den Beitrag, "den die gewaltigen, heute verfügbaren Rechenkapazitäten zur besseren Beobachtung komplexer physikalischer Phänomene leisten können."

Bisher gingen die Lawinenforscher davon aus, dass die Biegung des Schneebretts eine der treibenden Kräfte für die Ausbreitung des Bruchs ist. Dieser Erkenntnisstand beruhte auf Experimenten und numerischen Simulationen mit Schneebrettlängen von weniger als zwei Metern.

Die neue Entdeckung gelang, als die Forscher am Computer viel größere Schneebretter modellierten mit einer Größe um die hundert Meter. Ein glücklicher Zufall ermöglichte dann die Validierung des Computer-Modells durch die Auswertung der Videoaufnahme eines Schneebrettabgangs mit der neuesten Bildanalysetechnik.

Video: Dem Schneebrett davon gefahren.
baublatt

Von Anticrack zum Supershear

Zu Gute kam den Wissenschaftern, dass die Aufnahme von hoher Qualität war, da sie bei Dreharbeiten für einen Snowboard-Film entstand. Der gefilmte Profi-Snowboarder war Mathieu Schaer, ein ehemaliger Student der Umweltingenieurwissenschaften der EPFL. Er entkam dem Schneebrett und ließ das Video den Lawinenforschern zukommen. Später bestätigten vier echte Lawinen den neu entdeckten Übergang vom Anticrack-Modus zum Supershear-Ausbreitungsmodus. Auf der Grundlage dieser Erkenntnisse entwickelt das SLF nun in Davos eine Versuchsanordnung in größerem Maßstab, um den Ablauf noch besser zu verstehen.

Die Lawinenforscher erwarten, dass weitere Ergebnisse zu einfacheren numerischen Modellen führen werden. Die Rechenzeiten für die Lawinenmodellierung sollen sich damit "drastisch von mehreren Tagen auf wenige Minuten" reduzieren. Mit dem neuen Modell soll etwa die Größe potenzieller Lawinen abgeschätzt werden können, ein entscheidender Parameter für die Risikovorhersage. (red, APA, 26.7.2022)