Auch wenn Tiermilch bei laktoseintoleranten Erwachsenen selten für schwere Symptome sorgt: In Zeiten von Hungersnot und Krankheiten hatten Menschen, die Milchzucker besser vertrugen, einen gesundheitlichen Vorteil.
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Tiermilch, Jogurt und Käse gehören seit Jahrtausenden in vielen menschlichen Gemeinschaften zum nahezu täglichen Brot. Im Salzkammergut beispielsweise ernährten sich die Bergleute in der Eisenzeit von Blauschimmelkäse, Bier und Blutwurst, wie die Analyse von Kot zutage förderte. Doch während Spuren von Milch und ihrer Verarbeitung schon auf steinzeitlicher Keramik und in altägyptischen Schriften vorkamen, dürften vor rund 5.000 bis 10.000 Jahren alle Erwachsene mit der Verdauung dieser Produkte Probleme gehabt haben.

Ihnen fehlte das Enzym Laktase, das den Milchzucker Laktose im Verdauungstrakt spaltet. "Fast alle Babys produzieren Laktase, doch bei den meisten Menschen auf der Welt nimmt die Produktion zwischen dem Abstillen und dem Jugendalter rapide ab", erklärt George Davey Smith von der Universität Bristol. Der Epidemiologe lieferte nun im Rahmen einer internationalen Untersuchung weitere Hinweise dafür, dass sich die anhaltende Fähigkeit, Laktose zu verdauen, mehrmals entwickelte. Die dafür nötige Genvariante verbreitete sich in Europa erst um das Jahr 1000 vor Christus – und dahinter dürfte ein schlüssige, aber doch überraschende Erklärung stecken.

Milchfettspuren in Keramikscherben

Eine übliche Vermutung war, dass die "Laktosetoleranz" entstand, weil Menschen so größere Mengen an Milch und Milchprodukten zu sich nehmen konnten. Allerdings taten sie dies ohnehin schon lange – immerhin verursacht Laktoseintoleranz in den meisten Fällen verhältnismäßig schwache Symptome. Ein wenig Bauchweh, Durchfall oder Flatulenzen ließen sich wohl hinnehmen, wenn dafür der Hunger gestillt wurde und das fettreiche Essen noch dazu gut schmeckte.

Wenn eine Population mehr Milchprodukte zu sich nahm, bedeutete das aber nicht, dass sie diese auch besser verdauen konnte, stellt das Forschungsteam im Fachjournal "Nature" seine Ergebnisse dar. Sie zeigen, "dass der Milchkonsum in Europa mindestens 9.000 Jahre lang weit verbreitet war", sagt Davey Smith. Dafür wurde eine beachtliche Anzahl von mehr als 13.000 Keramikfragmenten von mehr als 500 Fundstätten auf tierische Fettspuren hin untersucht.

Einige davon stammten aus Niederösterreich. Eva Lenneis von der Universität Wien, die ebenfalls an der Studie beteiligt war, erläuterte gegenüber der APA, dass bei der Studie vor allem der obere Teil der Gefäße im Fokus stand: Milch bildet an der Oberfläche einen Fettrand, weshalb Fett eher in diesem Bereich in Keramikporen eindringt und sich daher vom Forschungsteam nachweisen ließ.

Zwei Drittel der Bevölkerung laktoseintolerant

In der DNA von mehr als 1.700 Menschen aus Europa und Asien, die zu prähistorischen Zeiten lebten, suchte das Team außerdem nach der Genvariante für "Laktasepersistenz". So wird fachsprachlich die Fähigkeit bezeichnet, noch im Erwachsenenalter das Enzym Laktase zu bilden und den Milchzucker gut zu verdauen. Um 4700 vor Christus kam die Variante erstmals in diesen Proben vor, um etwa 1000 v.Chr. trat sie gehäuft auf – heute ist sie in der europäischen Bevölkerung weit verbreitet.

Im internationalen Vergleich gibt es in Nordeuropa die meisten Menschen, die Laktose vertragen; in Ostasien und Afrika können das die wenigsten. Weltweit können etwa zwei Drittel der erwachsenen Weltbevölkerung Probleme mit der Verdauung haben, wenn sie zu viel Milch konsumieren.

Konsistent nahmen Menschen der Vorgeschichte, der Antike und des Mittelalters der Studie zufolge vor allem im heutigen Großbritannien, Westfrankreich und im Norden Europas viel Milch zu sich. In Zentraleuropa wurde etwas seltener zu Käse und Co gegriffen. Generell entwickelte sich die Fähigkeit, auch nach dem Kindesalter Laktase zu bilden, aber mehrmals und verbreitete sich auch in afrikanischen Regionen, im Nahen Osten sowie in Zentral- und Südasien.

Lebensbedrohliche Probleme

Die Forschungsgruppe warf nicht nur einen Blick in die Geschichte der Milchverträglichkeit, sondern studierte auch die Gegenwart. Sie analysierte aktuelle Gesundheitsdaten aus der britischen Biobank, die von mehr als 300.000 Personen stammen. Die Daten zeigen, dass auch Menschen mit Laktoseintoleranz ihren Angaben zufolge keine kurz- oder langfristigen Probleme haben, wenn sie tierische Milch trinken. Allerdings führe Milch bei ihnen zu einer hohen Laktosekonzentration im Darm, sagt Davey Smith. In der Folge könne mehr Flüssigkeit in den Dickdarm gelangen. Dieser ist eigentlich dazu da, dem Nahrungsbrei Wasser zu entziehen.

Hat eine davon betroffene Person gleichzeitig eine Durchfallerkrankung, könne dies Davey Smith zufolge für Dehydrierung sorgen. "Wenn Sie gesund sind, keine Laktase haben und viel Milch trinken, werden Sie vielleicht etwas Unwohlsein empfinden, aber Sie werden nicht daran sterben", sagt der Epidemiologe. Anders sieht es bei Menschen aus, die stark unterernährt sind und Diarrhö haben – dann können lebensbedrohliche Probleme entstehen: "Wenn für prähistorische Menschen Ernten ausfielen, haben sie eher unfermentierte Milch mit hohem Laktosegehalt konsumiert – genau dann, wenn sie das eigentlich nicht hätten tun sollen."

Natürliche Selektion im Turbomodus

Dies liefert auch die Grundlage für die Hypothese, dass Hungersnöte und Krankheitserreger, die von Wildtieren auf Menschen übersprangen, die Entwicklung der Laktosetoleranz maßgeblich vorantrieben. Die statistischen Modellrechnungen des Forschungsteams stützen diese Ansätze: Sowohl Indikatoren für Nahrungsengpässe als auch Krankheitsepidemien passen zur genetischen Entwicklung der besseren Milchzuckerverwertung. Wer unter solch schwierigen Bedingungen auch noch laktosebedingt unter Durchfall litt, hatte schlechtere Überlebenschancen – und konnte sich seltener fortpflanzen.

Es handelte sich also "um eine Art turbogeladene natürliche Selektion", die dafür sorgte, dass sich die Laktosetoleranz beispielsweise in Europa immer besser durchsetzen konnte, sagt der Genetiker Mark Thomas vom University College London. Statt einer kontinuierlichen Verbreitung der angepassten Variante kam sie eher sprunghaft immer häufiger vor – die laktoseintolerante Variante beugte sich eher dem großen Selektionsdruck. Heute hat diese Entwicklung noch für viele Menschen den Vorteil, dass sie auch als Erwachsene unbekümmert Kuh- und Ziegenmilch trinken und zu entsprechenden Butter-, Jogurt- und Käsevariationen greifen können. Für alle anderen gibt es zumindest laktosefreie Alternativen. (Julia Sica, 27.7.2022)