Bertha Pappenheim als 22-Jährige im Sanatorium Bellevue in Kreuzlingen am Bodensee.

Ergänzend zu unserer Reihe "Geradegerückt" rücken wir auch nach vor. In der Spin-off-Reihe "Vorgerückt" stellen wir vergessene, kaum gewürdigte und (noch) zu unbekannte, aber beeindruckende Lebensgeschichten vor, die deutliche Spuren hinterlassen haben.

Ihre Finger sollen sich in einer Halluzination in kleine Schlangen mit Totenköpfen verwandelt haben. Sprechen konnte sie nur noch auf Englisch, und nach einer Phantomschwangerschaft lag sie – der Erzählung nach – in den Wehen einer Scheingeburt, um das symbolische Kind ihres Therapeuten zur Welt zu bringen. Die Krankengeschichte der Anna O., die ihr Arzt Josef Breuer aufgeschrieben und 1895 mit Sigmund Freud in der Abhandlung "Studien über Hysterie" veröffentlicht hatte, war bahnbrechend für die Psychoanalyse. Anna O. wurde als erste durch die Gesprächstherapie "geheilte" Patientin weltberühmt.

Bei der Frage nach der Person hinter dem Pseudonym hilft ein Blick auf eine Fußnote in einer Freud-Biografie aus den 1950er-Jahren – und das Alphabet. Der Name ergibt sich nämlich aus der Verschiebung der Initialen. Aus Bertha Pappenheim wurde Anna O.

Mehr als die eigene Diagnose sein

Aber Bertha Pappenheim war nicht nur eine "hysterische" Frau. Im Jahr 1859 im wohlhabenden jüdischen Wiener Bürgertum geboren, muss sie mit 16 Jahren die Schule verlassen. Ihrer Nachteile als Frau war sie sich bewusst, so schreibt sie später: "Trotzdem den alten Juden die Erfahrung der Unentbehrlichkeit der Frau nicht entgangen sein konnte, (wird) das weibliche Kind bei ihnen als ein Geschöpf zweiter Güte betrachtet."

Als ihr Vater 1880 an Tuberkulose erkrankt und ein Jahr später stirbt, ist Bertha 21 Jahre alt und noch unverheiratet – ungewöhnlich für diese Zeit. Sie beginnt ihren Vater zu pflegen und wird dabei selbst krank. Breuer zählt in seinen Aufzeichnungen etwa Lähmungen, Angst- und Sehstörungen sowie Schläfrigkeit auf und diagnostiziert Hysterie.

Die "Königin der Psychosen"

Die nach der Gebärmutter benannte (griech. ὑστέρα hystéra) "Königin der Psychosen" erwähnte der griechische Arzt Hippokrates bereits im Altertum. Bis in die Neuzeit erklärten sich die Ärzte die vielfältige Anzahl an Symptomen mit einer wandernden Gebärmutter, die den Körper unbefriedigt und "wildgeworden" durchläuft. Aus diesem Grund galten Frauen als besonders anfällig für diese Krankheit. Um den Uterus wieder an seinen Platz zurückzutreiben, wurde die Hysterie bis Anfang des 20. Jahrhunderts noch mittels Klitorisentfernung oder elektrischer Methoden "geheilt".

Josef Breuer nutzt allerdings eine "Redekur" gepaart mit Hypnose, die Bertha humoristisch "chimney sweeping" (Kaminfegen) nennt. Die den Symptomen zugrunde liegenden Ursachen – meist hatte es etwas mit der Krankheit des Vaters zu tun – werden "wegerzählt", und Bertha gilt nach zwei Jahren Therapie Breuer zufolge als "genesen". Tatsächlich muss sie aber in den darauffolgenden sieben Jahren immer wieder im Sanatorium Inzersdorf behandelt werden. Von Bertha selbst gibt es dazu keine Aufzeichnungen, Historiker:innen streiten sich bis heute über ihre korrekte Diagnose.

Autorin, Übersetzerin, Frauenrechtlerin

Mit 29 Jahren lässt Bertha Wien hinter sich und zieht mit ihrer Mutter nach Frankfurt am Main. Sie nutzt die soziale Aufbruchstimmung der 1890er-Jahre im Deutschen Kaiserreich und beginnt zu schreiben und zu übersetzen. Diesmal ist sie selbst diejenige, die die Vorzüge der Namensänderung einsetzt. Denn ihre ersten Schritte als Autorin und Übersetzerin fallen in eine Zeit, in der Frauen weder studieren noch wählen dürfen und ihnen die Mitarbeit in politischen Vereinen verboten ist. Ihr erstes veröffentlichtes Werk – ein Märchenbuch mit dem Titel "Kleine Geschichten für Kinder" – ist anonym. Unter dem Pseudonym P. Berthold übersetzt sie "Die Verteidigung der Rechte der Frau" von Mary Wollstonecraft, eine der wichtigsten Schriften für Frauenrechte in Europa. Außerdem überträgt sie bekannte Werke der jiddischen Literatur in die deutsche Sprache. Jiddisch wurde im 19. Jahrhundert von vielen Jüdinnen und Juden in Osteuropa als Alltagssprache benutzt, in Deutschland aber nur mehr selten gesprochen und gleichzeitig abwertend als "Weiberdeutsch" bezeichnet. Denn im Gegensatz zu religiösen hebräischen Texten wurde jiddische Literatur zu Unrecht den Frauen und "Ungebildeten" zugeschrieben. Jüdische Mädchen hatten keinen Zugang zu jüdischer Bildung und somit zu religiösen hebräischen Schriften, stattdessen wurden sie auf Ehe und Mutterschaft vorbereitet.

Als Leiterin der israelitischen Mädchenwaisenanstalt in Frankfurt wehrt sich Bertha gegen diese Rollenzuteilung und bereitet die Mädchen nicht nur auf Haus und Hof, sondern auch auf einen Beruf vor. Nachdem sie 1901 in einem Vortrag das "Erwachen des sozialen Gewissens" gefordert hat, gründet sie am selben Abend mit Henriette Fürth den Verein Weiblicher Fürsorge und somit den ersten rein weiblichen und jüdischen Zusammenschluss dieser Art in Deutschland. Drei Jahre später wird der Jüdische Frauenbund (JFB) ins Leben gerufen, dessen Vorsitz Bertha 20 Jahre lang ausüben wird.

Das ehemalige Heim des Jüdischen Frauenbunds in Neu-Isenburg (im Bild) wurde 1938 von der Gestapo angezündet und 1942 aufgelöst, die restlichen Bewohnerinnen deportiert.
Foto: imago/epd/Heike Lyding

Ein Ruf nach mehr Bildung

Der Verein Weibliche Fürsorge kämpft vor allem gegen den Mädchenhandel und unterstützt verarmte und bedrohte Frauen aus Osteuropa. Als Mitglied des dafür zuständigen Deutschen Nationalkomitees erarbeitet sie gemeinsam mit mehreren europäischen Ländern ein internationales Abkommen. Es soll die Grundlage für das heutige Übereinkommen der Vereinten Nationen zur "Verhütung, Bekämpfung und Bestrafung des Menschenhandels, insbesondere des Frauen- und Kinderhandels" und die UN-Frauenrechtskonvention werden. Vor Ort versucht sie mit Säuglingspflegeeinrichtungen, Berufsvermittlungen und Rechtsbeistand zu helfen. Die Wurzel des Übels sieht Bertha dabei vor allem in der mangelnden Bildung. Sie glaubt daran, dass sich mit einer Verbesserung der rechtlichen und sozialen Situation auch die Bildung- und Berufschancen der Frauen verbessern würden. Selbst vor Besuchen in Bordellen ohne Männerbegleitung schreckt sie nicht zurück.

Als Herzstück ihres sozialen Engagements sehen viele Biograf:innen und Historiker:innen das Heim des Jüdischen Frauenbundes in Neu-Isenburg südlich von Frankfurt. Von Bertha gegründet und geleitet, ist es ein Auffanglager für schutzbedürftige Frauen und Kinder. Ihre Nachfolgerin sagt dazu später: "Weit über 1.000 Pfleglinge hatten in Isenburg für kürzere oder längere Zeit ein Heim gefunden." Kurz vor ihrem Tod 1936 tritt sie ein letztes Mal für die Interessen der Frauen ein, als sie von der Gestapo zu einer Bewohnerin des Heims verhört wird. Diese soll sich regimekritisch geäußert haben, Bertha kann den Verdacht zerstreuen.

Eine Büste von Bertha Pappenheim im ehemaligen Heim des Jüdischen Frauenbundes. Bertha stirbt mit 77 Jahren.
Foto: imago/Heike Lyding

Josef Breuer mag die unterschiedlichen Instanzen der Bertha Pappenheim schon erkannt haben, als er sie in seinem Krankenbericht als Mädchen von "bedeutender Intelligenz" beschreibt, wobei es "für ihre geistige Tätigkeit keinen realen Inhalt gab". Das sollte sich in Frankfurt ändern. Als ihrer Zeit voraus bezeichnet sie sich selber, als Kurt Tucholsky sie und andere Prominente dieser Zeit 1930 um einen selbst formulierten Nachruf bittet: "Sie war eine Frau, die jahrzehntelang eigensinnig für ihre Ideen eingetreten ist, Ideen, die in der Zeit lagen. Aber sie tat es oft in Formen und auf Wegen, die einer Entwicklung vorgreifen wollten, so wie sie auch nicht nach jedermanns Sinn und Geschmack waren. Schade!" (Anna Wiesinger, 4.8.2022)