Videocall auf der Couch? Coden im Coworking-Space? Texten am Strand? Kein Problem. Immer mehr Arbeitgeber erlauben ihren Mitarbeitern großzügige Homeoffice-Regelungen. Airbnb-Chef Brian Chesky sagte, die Zeit des Büros sei vorbei. Doch so flexibel diese "Work from Anywhere"-Kultur ist, so starr und tayloristisch ist die Taktung der Arbeitszeit. Deadlines müssen eingehalten werden, und wenn der Chef ein Meeting einberuft, müssen alle antanzen – egal, ob das Kind gerade krank ist oder man dringend Erledigungen für den Feiertag machen muss.

Die digitale Anwesenheitspflicht verursacht nicht nur Stress, sondern ist auch höchst unproduktiv. Durch unnötige Online-Konversationen in Messaging-Apps oder Videokonferenzen gehen im Monat bis zu zehn Stunden verloren. Gerade bei internationalen Unternehmen, in denen die Angestellten in verschiedenen Zeitzonen arbeiten, kann das synchrone Arbeiten zum Problem werden. Während der Mitarbeiter in San Francisco gerade munter in den Tag gestartet ist, ist es beim Kollegen in Singapur mitten in der Nacht. Das Internet hat Distanzen relativiert, aber die Arbeitsorganisation ist noch sehr dem industriellen Zeitalter verhaftet. Das könnte sich bald ändern.

Schluss mit dem strengen Zeitregime: Stattdessen sollen Angestellte ihrem eigenen Tempo und Rhythmus folgen.
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Orts- und zeitunabhängig

Immer mehr Start-ups bieten ihren Mitarbeitern asynchrone Arbeitszeiten an. Die Idee ist so simpel wie bestechend: Statt Arbeit in ein strenges Zeitregime zu pressen, sollen Angestellte ihrem eigenen Tempo und Rhythmus folgen. Keine Konferenzmarathons mehr, kein nutzloses Absitzen von Meetings, keine Endlosschleifen in Chat-Programmen. Prozesse und Aufgaben werden nicht mehr augenblicklich über Messenger-Apps oder Videokonferenztools kommuniziert, sondern zeitversetzt wie beispielsweise über die Kommentarfunktion von Textprogrammen. Während sich der Mitarbeiter in Berlin ausloggt und mit seinem Kind auf dem Spielplatz ist, werkelt die Kollegin in Boston weiter am Programmcode.

Durch den Verzicht auf Echtzeit-Meetings entstehen nicht nur Freiräume und Effizienzgewinne, sondern es wird auch auf die unterschiedlichen Biorhythmen und Routinen der Mitarbeiter Rücksicht genommen. Die eine ist morgens produktiv, der andere abends. Wenn die digitale Stechuhr nicht mehr ticke, könne das Potenzial voll ausgeschöpft werden, so das Versprechen.

Die Entwicklerplattform Gitlab, deren rund um den Globus verteilte Mitarbeiter sich zum Teil noch nie im physischen Raum begegnet sind, hat einen solchen "nichtlinearen Arbeitstag" beispielhaft für ihren Remote-Chef Darren Murph skizziert: An einem Dienstag steht Darren um sechs Uhr morgens in Montana auf. Nach 30 Sekunden "Pendeln" vom einen ins andere Zimmer startet er mit einem Kaffee in der Hand um 6.30 Uhr seinen Arbeitstag. Um 8.30 Uhr loggt er sich aus und frühstückt mit seiner Familie. Um zehn Uhr steht er auf der Skipiste. Nach der Rückkehr um 15 Uhr nachmittags geht Darren duschen und nimmt ein frühes Abendessen ein. Um 16.30 Uhr, wenn die Dunkelheit in der Bergwelt von Montana einbricht, setzt er die Arbeit an seinen Projekten fort – bis 22.30 Uhr. So kommt Darren über den Tag verteilt auf eine Arbeitszeit von acht Stunden. Gerade bei der jüngeren Generation, bei der die Work-Life-Balance mehr zählt als das Gehalt, kann das ein Argument sein.

Der Beginn der "Internetzeit"?

Ohnehin fragt man sich, warum Arbeitgeber an starren Präsenzzeiten festhalten, wo doch Informationen in Sekunden über den Globus gejagt werden und das starre Zeitkorsett eines 9-to-5-Jobs zunehmend wie ein Anachronismus wirkt. Der amerikanische Informatiker und MIT-Professor Nicholas Negroponte hat bereits 1998 eine eigene "Internetzeit" vorgeschlagen. Diese, so Negroponte, sei nicht mehr geopolitisch, sondern global: "Der Cyberspace kennt keine Jahreszeiten und weder Nacht noch Tag." Die vom Schweizer Uhrenkonzern Swatch am 23. Oktober 1998 eingeführte Swatch Internet Time (SIT) unterteilte den Tag in 1000 Zeiteinheiten, sogenannte "Beats", die jeweils einer Minute und 26,4 Sekunden entsprachen. Der Mittelpunkt war nicht mehr Greenwich, sondern das Schweizer Biel, der Hauptsitz von Swatch. Dadurch, dass in New York derselbe Beat wie in Moskau schlug, sollte es keine Probleme mehr bei Terminen geben.

Der Versuch, eine neue Zeitordnung zu schaffen, wurde als Marketing-Gag belächelt und konnte sich nicht durchsetzen. Die Uhren im globalen elektronischen Dorf tickten lange anders. Doch Negropontes implizite Kritik, dass die Zeitzonen noch aus einer kolonialen Welt datieren und nicht mehr mit der Temporalordnung eines globalen Informationssystems kompatibel sind, war seiner Zeit voraus. Für Gamer, die in virtuellen Welten wie Roblox unterwegs sind und dort ihr Geld verdienen, sind die Tages- und Nachtzyklen des Spiels wichtiger als die Zeitanzeige auf ihrem PC oder Smartphone. Und auch immer mehr Vorgesetzten ist es egal, wann und wo ihre Mitarbeiter ihre Arbeit erledigen. Die besten Ideen entstehen nicht zwischen neun und fünf Uhr, sondern zwischen ausgeruhten und kreativen Mitarbeitern. (Adrian Lobe, 1.8.2022)