Der aus Japan gebürtige Takeo Ischi ist der beliebteste bayerische Jodelkönig. Kulturelle Aneignung? Der Mann liebt diese Musik!

Foto: takeoischi.de

Haare waren das große Thema der 1960er- und 1970er-Jahre. Damals wurde man von den Eltern gern zum Friseur geschickt, weil das Haupthaar über die Ohrläppchen zu wachsen drohte. Wenn man dann aber mit einer Nazifrisur zurückgekommen ist, war es auch wieder nicht recht. Deshalb eine dringende Bitte: Lasst die Haare anderer Leute in Ruhe! Auch alt und weiß ist man also "sensibilisiert", wenn es um die neueste Empörungsgranate in Social Media geht.

Das Konzert der Schweizer Reggaeband Lauwarm wurde jüngst in Bern abgebrochen. Personen im Publikum hatten sich beim Veranstalter beschwert. Sie würden sich "unwohl" fühlen. Zwei der weißen Bandmitglieder würden nämlich Dreadlocks tragen. Überhaupt handle es sich bei Lauwarm um eine Band, die "kulturelle Aneignung" betreibe. Reggae und Dreadlocks leiten sich immerhin von der Rastafari-Bewegung ab, einer benachteiligten gesellschaftlichen Gruppe auf Jamaika, die von verschleppten afrikanischen Sklaven abstammt. Wenn also ein Weißer Dreadlocks trage, würde er sie dem Kontext einer Unterdrückung entreißen, die er selbst nie erfahren hat.

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Nun könnte man einwenden, dass es sich bei afrojamaikanischen Rastas zwar um eine unterdrückte Gruppe handelt, deren Widerstand sich einst darin manifestierte, dass sie die weißen Kolonialherren mit ihrer kreativen Auslegung von Arbeitseifer zur Verzweiflung trieben. Die hiesige akademische Viertelstunde dauert bei Treffen mit Rastafari-Musikern auf Jamaika bis heute drei, vier Stunden länger. Allerdings zeichnet sich die in Europa meist wenig reflektierte Rastafari-Bewegung auch dadurch aus, dass sie nicht gerade für die Gleichstellung der Frau eintritt.

Dagegen könnte man ja einmal etwas haben, nicht gegen die Haare. Während die Männer zusammenhocken, lustige Sachen rauchen und von "One Love" schwärmen, muss schließlich jemand die schwere Feldarbeit erledigen oder die Kinder großziehen. Immer wieder fallen jamaikanische Musiker wie Sizzla, Beenie Man, Elephant Man oder Bounty Killer auch durch extrem homophobe Texte auf, die die alte Glückseligkeit von Bob Marleys weltumarmender "One Love" doch ein wenig relativieren.

Klassenkampf ...

Kurz gesagt, gegen eine systemische Unterdrückung wird man am besten dadurch tätig, indem man sich nicht in Grabenkämpfen verzettelt, sondern sich irgendwie solidarisiert oder zusammenrauft und einen Klassenkampf gegen ein repressives und ausbeuterisches System anzuzetteln versucht. Verkniffene Besserwisserei in einem Woke-Safe-Space bezüglich adaptierter Haartrachten oder Musikstile kehrt nur eine scheinbare, sich über andere erhebende "Moral" in den Vordergrund, die im Wesentlichen auf Unsicherheit, Neid oder auch nur reiner Bosheit beruht.

... statt Grabenkampf

Immerhin handelt es sich bei Reggae trotz aller Vorbehalte um eine global wirkmächtige Musik des Widerstands. Vor allem in der sogenannten Dritten Welt wird Bob Marley als Heiliger verehrt.

Kommen wir zurück zur Frage, ob man sich kulturell etwas aneignen darf. Wie wir alle aus unserer Kinderzeit wissen, lernen wir durch Imitieren. Das machen wir so lange, bis die so erlernten (Kultur-)Techniken ganz selbstverständlich zur Konsolidierung einer eigenen Person beitragen. Dürfen also weiße Schweizer respektvoll Reggae spielen und Rasta-Filzzöpfe tragen? Wenn es keinen Austausch der Kulturen geben würde, dann wären wir arm dran. Wir würden immer noch rund ums Lagerfeuer sitzen und mit Holzknüppeln auf Steine klopfen, während der Stammesälteste rhythmisch akzentuiert seine Jagdabenteuer zum Besten gibt.

Ja, natürlich profitierten und profitieren weiß geprägte Gesellschaften von dieser künstlerischen "Ausbeutung" am meisten. Die Rolling Stones haben den Rock ’n’ Roll und den Blues von Afroamerikanern wie Muddy Waters oder Chuck Berry "gestohlen". Andererseits profitierten auch die Opfer davon. Sie wurden dadurch bekannt.

BobMarleyVEVO

Reggae wurde ab 1974 weltweit erst durch Eric Claptons Version von I Shot the Sheriff populär und Bob Marley in Folge ein Star. Ein Jahr zuvor blieb dieser Erfolg Marley mit seinem Original noch versagt. Spätestens ab den 1970er-Jahren herrschte überhaupt ganz selbstverständlich die Kunst der Aneignung oder des Zitats. Stichwort David Bowie.

Der berühmteste bayerische Jodler ist übrigens ein Japaner namens Takeo Ischi. Er hat sich wahrscheinlich noch nie "unwohl" gefühlt, wenn junge weiße Männer beim Wiener Oktoberfest aus der Bergwelt angeeignete Sepplhosen aus dem Trachtendiskonter tragen und Volksmusik ballermannisieren. Und Dreadlocks wurden früher lange auch in Europa getragen. König Christian IV. von Dänemark hat sie im 17. Jahrhundert sogar zur Mode gemacht. Afroamerikanische Gospels und Spirituals bauen auf europäischen Kirchenliedern auf. Reggae leitet sich von US-Popmusik der frühen 1960er-Jahre ab. Eine lange Geschichte, stark eingekürzt: Von nichts kommt nichts. (Christian Schachinger, 28.7.2022)