Katja Petrowskaja ist in Kiew aufgewachsen und hat an den Universitäten in Tartu, Stanford und Moskau Literaturwissenschaften und Slawistik studiert.

Foto: Suhrkamp Verlag / Gunter Gluecklich

Ich erreiche Katja Petrowskaja per Skype in Tiflis in Georgien. Ein herrenloser Hund im Haus wird sie während des Gesprächs mehrfach beschäftigen. Sie kommt mitten aus einer komplizierten familiären Konstellation zwischen Berlin, Kiew und Tiflis. Dazu der Krieg, der alles durcheinanderwirft. Ihr Buch Das Foto schaute mich an könnte zu diesem intensiven Moment kaum besser passen.

STANDARD: Frau Petrowskaja, was machen Sie in Tiflis?

Katja Petrowskaja: Mein Mann und ich sind im Oktober 2020 hierhergezogen. Unsere Kinder sind groß geworden, und wir wollten noch eine andere Stadt erleben, noch ein anderes Land. Mein Mann leitet eine kleine Umweltstiftung. Sie finanziert Naturschutzgebiete im ganzen Kaukasus, unterstützt Ranger und Biologen und kümmert sich um biologische Vielfalt. Ich war froh, als er diesen Job angenommen hat, ich kenne Georgien seit der Kindheit, ich war schon einmal als Kind mit meinem Chor hier. Georgien war für viele in der UdSSR Aufgewachsene eine wichtige Prägung: Filme, Literatur, auch der Freiheitsgeist, die enorme Schönheit der Natur und die Gastfreundschaft.

STANDARD: Was lassen Sie in Berlin zurück?

Petrowskaja: Meine beiden Kinder studieren in Berlin. Und nun ist meine Mutter nach Berlin geflohen. Sie hat 60 Jahre lang in Kiew als Geschichtslehrerin gearbeitet. Sie ist 86, ein Kriegskind. Sie floh 1941 mit ihrer Mutter vor der Wehrmacht in den Süd-Ural und nun vor der russischen Armee nach Berlin. Sie wollte Kiew nie verlassen. Nächste Woche wird sie operiert. Und sie hat kein Zuhause. Ich bin sofort nach Beginn des Krieges nach Berlin gekommen, ich dachte, dass ich hier mehr politisch beeinflussen kann, aufklären, auch mehr konkret helfen. Nun auch meiner Mutter. In Tiflis, wo Aufbruchsstimmung herrscht, aber auch eine schreckliche Angst, bin ich nur kurz, um meinen Mann zu sehen. Es ist schwer, in dieser tragischen Zeit ohne den Liebsten zu sein.

STANDARD: Georgien und die Ukraine verbindet gerade eine starke Solidarität.

Petrowskaja: Ja, natürlich, auch weil beide Opfer der russischen imperialen Politik sind und Georgien bereits 2008 Erfahrung mit einer russischen Invasion gemacht hat. Der Kaukasus insgesamt war immer eine der größten Begehrlichkeiten des russischen Imperiums, nicht nur Georgien. Kürzlich fand in Tiflis eine große Demonstration statt, an dem Tag, als Ukraine und Moldau der EU-Kandidaten-Status gegeben wurde und Georgien nicht. Eine Ohrfeige für die georgische Regierung, die sich von Demokratie in allen Bereichen abwendet und zum Teil sogar eine prorussische Politik verfolgt, angetrieben von einer Mischung aus Angst und Korruption. Das waren fast hunderttausend Menschen vor dem Parlamentsgebäude! Sie sind auf die Straße gegangen aus Solidarität mit der Ukraine, aus Mitgefühl mit den Opfern des Krieges, aus Freude, dass die EU diese symbolische Entscheidung für die Ukraine in dieser Zeit getroffen hat, aber auch aus Empörung über die eigene Regierung. Ich wohne nur ein paar Meter entfernt vom Parlament, war gerade erst gelandet und fand die Stimmung unter den Menschen sehr beeindruckend – das genaue Gegenteil vom Heldenplatz von Thomas Bernhard, mehrmals wurde die Ode an die Freude gesungen. Und auch wenn man schon viele pathetische Dinge erlebt hat und sowieso etwas skeptisch ist – das war stark und schön und sehr traurig!

STANDARD: Was hat die EU gegenüber Georgien falsch gemacht, was sich vielleicht auch mit der Ukraine vergleichen ließe?

Petrowskaja: 2008 hätten nach der Okkupation von Südossetien durch Russland andere Dinge geschehen müssen. Man hatte Georgien den Nato-Beitritt versprochen – aber Merkel und Sarkozy haben sich dagegen gestellt. Man hat Georgien damals im Stich gelassen. Und ebenso die EU. Jetzt ist es schwierig. Der Schrei nach Schutz ist sehr laut.

STANDARD: Sie hatten in Deutschland einige wichtige Talkshow-Auftritte seit dem 24. Februar. Wie sieht Ihr Alltag in diesen Wochen aus?

Petrowskaja: Seit dem 24. Februar gibt es keinen Alltag mehr. In Deutschland ist der erste Schock des Kriegs vorbei, es ist Sommer, und viele Menschen gewöhnen sich daran, dass irgendwo dort der Krieg läuft, und hier fährt man in den Urlaub, was auch wichtig ist. Wenn der Krieg nicht sogar als "Normalität" anerkannt wird, wird er "lokalisiert" – na ja, schlimm, aber weit weg, und was kann ich schon machen? Der Osteuropa-Historiker Karl Schlögel hat schon am Anfang des Kriegs gesagt, dass dieser Krieg in den breitesten Schichten der Bevölkerung verschiedener Länder eine Stimmung wie während des Spanischen Bürgerkriegs verbreitet hat. Es ist offensichtlich, dass die Ukraine gegen ein terroristisches Reich für Menschenleben, Selbstbestimmung und Freiheit kämpft, auch für Europa, auch für uns. Auch in meinem Freundeskreis hat sich spontan so etwas wie eine "Brigade" gebildet, aus Freunden in der Ukraine, in Georgien, in den USA und Holland.

STANDARD: Wie helfen Sie?

Aus "Das Foto schaut mich an": Familie Petrowskaja, 1977.
Foto: Katja Petrowskaja

Petrowskaja: Wir haben uns sehr viel mit der Lieferung von Medikamenten beschäftigt, Flüchtlingshilfe geleistet, Übersetzungen organisiert, kugelsichere Westen oder sogar Schuhe gekauft, Kindern eines Waisenhauses geholfen, nach Deutschland zu kommen. Gerade habe ich Geld für einen Minibus gesammelt, der Exponate kleiner Museen aus angegriffenen Gebieten in Sicherheit evakuieren soll, von der Frontlinie in die Westukraine. Die Städte und gerade auch gezielt ihre Kulturdenkmäler und Museen werden dort in Schutt und Asche gelegt. In Berlin haben meine Freunde einen Verein gegründet, der Kinder mit Auffälligkeiten betreut. Aber der Krieg hat so viel Unheil geschaffen, dass man ständig am Rande seiner Kräfte ist, egal wie viel man macht, es ist nicht genug. Wenn nicht alles so tragisch wäre, wäre es beinahe wie in einem Abenteuerroman. Und ich bin immer wieder erstaunt, welche Leute hier in Europa so heroisch, mit offenem Herzen und offener Wahrnehmung und ohne müde zu werden helfen.

STANDARD: Wie haben Sie die Diskussionen über militärische Unterstützung für die Ukraine verfolgt? In Deutschland gab es deutliche pazifistische Äußerungen.

Petrowskaja: Was manche europäische Intellektuelle angeht, ist das natürlich eine Katastrophe, einem 40-Millionen-Volk zu sagen: Ihr seid mit Gewalt konfrontiert, und wir helfen Euch nicht! Ich bin eher ein melancholischer Mensch, für mich ist es auch ein persönlicher Bruch, zu sagen, es gibt keinen anderen Weg als durch Waffengewalt. Aber wie sonst möchten Sie Putin aufhalten? Der heutige Krieg ist die Folge einer europäischen Politik der Zugeständnisse. Durch diese Politik des "Wandels durch Annäherung" hat man Putin immer weiter legitimiert und "reingewaschen". Seit dem zweiten Tschetschenien-Krieg und seiner Machtübernahme 1999 eskaliert Putin Schritt für Schritt, führt Kriege und bekämpft die Demokratie im eigenen Lande. 2008 Georgien, 2014 Krim und Ostukraine, 2015 Syrien – und nun dieser ebenso absurde wie menschenverachtende Krieg gegen Ukraine. Putin eskaliert, und keine diplomatischen Bemühungen dagegen haben gewirkt. Deutschland hat überallhin Waffen verkauft, aber jetzt, wo es wirklich nötig ist, ein Regime der Tötung und Vergewaltigung zu stoppen, halten manche in Deutschland plötzlich die Fahne des Pazifismus hoch, was bedeutet, dass den Menschen in der Ukraine ihr elementarer Schutz verweigert wird, da die Ukraine – wie wir alle wissen – nicht genug Waffen hat, um sich zu schützen. Damit werden Menschen und ganze Städte der Gewalt ausgeliefert. Dabei ist doch ganz offensichtlich: Man kann Putin nur militärisch stoppen. Durch solche Briefe sterben mehr Menschen.

STANDARD: Die Ukraine ist ein Staat, der nie so richtig die Gelegenheit bekam, sich selbst zu finden. Sie sind Jahrgang 1970. Können Sie Ihre politische Bewusstwerdung beschreiben?

Petrowskaja: Ich habe mich immer als ein Mensch aus Kiew verstanden, ich habe mich mit meiner Stadt identifiziert, mit ihrer Landschaft und ihrer vielschichtigen Kultur. Davon handelt zum Teil auch mein erstes Buch Vielleicht Esther. Und ich komme aus einer Familie, die sehr wohl weiß, was Unterdrückung durch ein Imperium bedeutet. Meine Mutter war Geschichtslehrerin, mein Vater war Literaturwissenschafter, der nie eine Arbeitsstelle hatte. Eine lange Geschichte: Trotz dreißig Jahren Unabhängigkeit wurde die Ukraine nie als Subjekt wahrgenommen. Nach der Schließung von Tschernobyl gab es in der Ukraine, die größer als Deutschland ist, keinen einzigen Korrespondenten einer großen Zeitung mehr. Das wurde alles aus Moskau "erledigt", oder aus Warschau. Das Budapester Memorandum 1994 war ein Schlüsselereignis. Die Ukraine hat sich damals (zusammen mit Belarus und Kasachstan) von seinen Atomwaffen verabschiedet – so viel zum Thema Militarismus! Niemand hätte die Ukraine angegriffen, wenn sich das Land damals nicht zu diesem freiwilligen Akt entschlossen hätte. Das größte Land Europas, mit seiner sehr prekären Geschichte, mit mehreren Jahrhunderten Widerstand gegen Imperien, wird auch jetzt oft als Spielort von Interessen dargestellt, wenn über militärische Entscheidungen gesprochen wird. Nach der Orangenen Revolution 2004 haben mein Mann und ich eine Initiative begründet, wir nannten sie Kiewer Gespräche, um die Ukraine als Gesprächspartner zu etablieren und einen bilateralen Dialog aufzunehmen. Ich habe seit damals einiges getan, um meinem Land dabei zu helfen, endlich gehört zu werden.

STANDARD: Ihr neues Buch beruht auf Kolumnen über Fotografien, die Sie seit 2014 geschrieben haben.

Katja Petrowskaja, geb. 1970 in Kiew, ist Autorin und Journalistin und lebt in Berlin und Tiflis. "Das Foto schaut mich an". 25,00 Euro / 256 Seiten, Suhrkamp, 2022
Cover: Bibliothek Suhrkamp

Petrowskaja: Ja, es ist mir unheimlich, dass meine erste Fotokolumne aus dem Krieg in der Ostukraine heraus entstanden ist, der vor acht Jahren begann. Mein Fotobuch handelt nicht vom Krieg, aber es ist vom Krieg "umklammert". Fotografie begleitet uns immer, wir leben im Sturm der Bilder, und es ist heutzutage sehr einfach, selbst zu fotografieren. Es sind magische Erlebnisse von Leben und Tod, die wir mit Bildern haben. Über diese Zeitlichkeit der Bilder ist viel nachgedacht worden. Es mag etwas frech sein, ohne spezielle kunsthistorische oder fotografische Ausbildung darüber zu schreiben. Vielleicht Esther, mein erstes Buch, wurde in den Tagen der Annexion der Krim veröffentlicht, und ich stand plötzlich mit diesem Buch über den Zweiten Weltkrieg mitten im Kontext eines neuen Wahnsinns. Ich bin in der Institutskaja-Straße in Kiew geboren, genau dort wurden 2014 auf dem Höhepunkt des Euromaidan mehr als einhundert Menschen getötet. Meine Texte stellen vielleicht einen Versuch dar, mithilfe der Erinnerung etwas zu "reparieren". Es gibt diese jüdische Idee von "Tikkun Olam", von einer Reparatur der Welt. Ich weiß nicht viel über das Jüdische, aber das sagt mir etwas. Gerade 2014 wurden wir mit sehr vielen Bildern konfrontiert. Es war dann das Bild von Jewhenija Bjelorussez, einer langjährigen Freundin und Gesprächspartnerin, das eine Benjamin’sche Unmöglichkeit zur Deutung in sich barg: ein Bergmann im Donbass, hinter einer Wolke seines eigenen Zigarettenrauchs. Ich schrieb meine Kolumnen aus einer Wahrnehmung, die durch das Leben konstruiert wird. Ich kann dazu keine theoretischen Statements destillieren, es sind ganz konkrete Erfahrungen. Das Bild zeigt uns das Rätsel dieses Krieges. Was passiert eigentlich mit uns?

STANDARD: Mein Lieblingsbild ist das von einer Frau in einem Sessellift in Südrussland. Eine ältere sowjetische Frau, schwebend. Sie nennen es vieldeutig "Babuschka im Himmel".

Petrowskaja: Ich wollte von einer Babuschka (Großmama) träumen, weil die eine meiner Großmütter blind war und die andere psychisch krank. Und dann schwebt jemand vom Fuß des Kaukasus aus einem anderen Familienarchiv in das unsere. Erinnerungen sind der kostbarste Besitz. Meine Eltern waren sehr arm, aber das war uns gar nicht bewusst, weil wir ja tausende Bücher besaßen. Der Rückzug ins Innere war ein Versuch der Selbstbescheidung und Selbstdefinition. Eine Gesellschaft, die gegen den Materialismus kämpft, erzeugt eine unglaublich starke Mythologie. Die Sowjetunion hatte ihre Idole und ihren Rückzug in sehr private, sehr spirituelle Zusammenhänge. Ich versuche nicht, das rückblickend zu idealisieren, aber diese Unterdrückung hat aus einigen Menschen Diamanten geschliffen.

STANDARD: Ich lese Ihr Buch auch als eine ukrainische Ortsbestimmung in der Weltgesellschaft der Bilder.

Petrowskaja: Danke. Ja und nein. Es gibt epiphanische Wolken und fotografische Kriegstauben-Depeschen, historische Fotos aus den USA oder ein enigmatisches Einhorn auf einer Märcheninsel. Aber es stimmt, es gibt im Buch viel Kiew und Ukraine, wie in einer Verdichtung. Sogar auf dem Cover sind die Augen der amerikanischen Avantgardistin Maya Deren zu sehen, die 1917 in Kiew geboren wurde. Dann gibt es da Bilder aus dem Zweiten Weltkrieg oder aus dem Familienarchiv, strahlende Blumen aus Tschernobyl. Kiew ist ein Ort, der von vielen Kriegen heimgesucht worden ist, ein tragischer und schöner Ort, der auch sehr fotogen ist. Da geht es immer um die Schichtung von Zeiten, wie bei einer doppelten Belichtung. Es gibt aber auch Bilder, die sich – wenn auch vage – an Erotik annähern. Manchmal haben die Bilder mich auserwählt, so hat mich etwa lange Francesca Woodman verfolgt. Was sie über Weiblichkeit, Materialität, Körper und Tod verstanden und in ihre Kunst aufgenommen hat, ist unglaublich, obwohl sie mit 22 Jahren starb. Und wie Fotografie fähig ist, diese Auflösung von Materie darzustellen. Die Auswahl der Bilder hat verschiedene Spuren verfolgt, so entstand dieser fotografische Kalender innerer Ereignisse, manchmal sehr zufällig. Der Zufall schmeckt jedoch nach Freiheit. (Bert Rebhandl, ALBUM, 30.7.2022)