"Der Krieg wohnt in meinem Smartphone", schreibt Vakhovska. Auf dem Bild fotografiert eine Ukrainerin brennende Weizenfelder in der Ostukraine.

Foto: AP / Nariman El-Mofty

Der Krieg wohnt in meinem Smartphone. Morgens, kaum erwacht, insbesondere an "sicheren" Orten, greife ich nach den Nachrichten.

6.14: Drei Regionen zum ersten Malaus dem Territorium von Belarus massiv beschossen. (Eine davon ist meine Heimat.)

7.25: 24 Marschflugkörper auf die Vorstädte von Schytomyr im Nordwesten geschossen.

7.50: 20 Raketen auf Desna im Norden geworfen.

8.01: Vier Marschflugkörper neben Jaworiw im Westen eingeschlagen. Noch zwei durch Luftabwehr abgeschossen.

9.23: Unter Schytomyr zehn von 24 Raketen von der Luftabwehr erwischt. Die Anzahl der Opfer wird später bekanntgegeben.

Wie erwartet schmeckt mein Frühstück nach Plastik. So etwas ist mir bereits im April passiert, als ich den Krieg gegen einen kurzen Aufenthalt in Wien getauscht zu haben glaubte. Ich saß im Café mit einem hervorragenden Schokokuchen, als eine Nachricht aus dem Osten kam. Ich bin darüber nicht einmal wirklich erschrocken, und trotzdem war der Geschmack plötzlich weg, als hätten die Rezeptoren verlernt, die Informationen weiterzuleiten. In meinem Kopf drehte sich eine endlose Repeat-Schleife: Diesem Krieg kann man nicht entkommen. Den schleppe ich tatsächlich ständig mit, unabhängig von den Gepäckmitnahmebedingungen.

Da standen wir da

Der Krieg wohnt in meinem Smartphone, zu dem ich morgens greife, als wär ich immer noch auf der Flucht und müsste nach Angaben über die Annäherung des Feindes suchen. Vor kurzem musste ich meinen Neffen über eine App anrufen. Er wohnt hinter dem Uralgebirge und konnte seine einzige nahe Verwandte, die Oma, auf üblichem Wege nicht erreichen.

Sie erzählte ihm vom Wetter, von den unaufhaltsam steigenden Preisen, von zwei Beschüssen, die ihr Haus beschädigt haben. Er war mitfühlend und bemühte sich darum, ihr Ukrainisch zu verstehen. Als er sich über die schlechte Telefonverbindung beklagte, erwiderte ich, das sei kein Wunder, unsere Staaten sind doch im Krieg.

Er lachte auf: Es sei kein echter Krieg, es werden die Nazis gejagt, die ohnehin den eigenen Leuten in den Rücken schießen. Da standen wir da – ich, seine ehemalige Nazi-Babysitterin, die mit ihm bisher Russisch geredet hat, sein 70-jähriger Nazi-Großonkel und seine 80-jährige Nazi-Oma, von deren Häusern die Dächer und Fenster frisch abgerissen worden sind. Wir konnten es einfach nicht fassen.

Es nicht fassen können

In Wien begegnet mir der Krieg mit Gebetszetteln im Stephansdom: "Awdijiwka gehört zur Ukraine", "Donbass ist meine Heimat!", "Gott rette die Ukraine". Der Krieg lässt eure Motorbikes und Flugzeuge wie Raketen knurren. Er erzählt mir endlose Geschichten der Geflüchteten und der Gebliebenen, alle unerschöpflich und einander gleichend – vom durch die Luftkämpfe zerschnittenen Himmel über Kiew oder von der diplomatischen Kunst des Pinkelns, wenn man tagelang in der Warteschlange an der Grenze steht.

Ob sich all diese Geschichten so leicht Externen erzählen lassen, all jenen, die es auf der Erfahrungsebene nicht begreifen können (und wahrscheinlich auch gar nicht unbedingt Interesse haben?), bezweifle ich sehr. Die Wörter sind brüchig und unvollendet, sie können den Schrecken, die Müdigkeit und die Verzweiflung nicht einfangen.

Sie können nichts für den schwarzen Schmerz, der in uns gähnt. Der ist begraben unter mehreren Schichten von Zorn und Hass und Arbeit und Freiwilligenbeschäftigung, damit er nicht herauskommt, nur nicht jetzt, wo wir noch am Überleben sind. Der Krieg meiner Gesprächspartner:innen redet mit dem Krieg, der in mir wohnt.

Kein Ausblenden

Zu Hause, in dem winzigen abgelegenen Dorf mit etwa 20 Menschen und fünf Kühen, auf die nur aus Versehen geschossen werden kann, oder in Kyjiw mit seinen drei Millionen Menschen und sehr viel Anlässen zum Schießen, da fällt mir der Krieg fast nicht mehr auf, so präsent er ist. Regelmäßig fahre ich über die zersprengten und halb wiederaufgebauten Brücken.

An einer muss man kurz nach rechts Ausschau halten, um einen Haufen zerquetschter Autowracks zu sehen. Sie sind bei einer Bombardierung von dieser Brücke gefallen. Zu Beginn des Krieges habe ich mich gezwungen, meine voyeuristische Schaulust zu bändigen: Es sind Menschen gestorben. Heute schaue ich ganz genau hin: Dort sind die Menschen gestorben. Und diese Tatsache darf nicht zerquetscht werden wie Autowracks.

In kaputten Dörfern, in die keine politischen Katastrophentourist:innen kommen werden, mangelt es an Mitteln für den Wiederaufbau, doch werden da die Gärten weiter sorgfältig gepflegt. Kaskaden aus Petunien blühen in Borodjanka und Butscha. Die zerschossenen und schwarzverrußten Gebäude stehen wand- und fensterlos nebenan.

Diese Aussicht ist von keinem Ausblenden geprägt – es tut weh, genau wie in den ersten Wochen des Krieges. Ich besänftige einen nicht ausgelassenen Schrei mit den Bildern dieser sommerlichen Pracht und gehe weiter, zu den khakifarbenen Männern und Frauen, die die Eingänge der U-Bahn überwachen. Kiew riecht nach den Lindenblüten. Wen das nicht glücklich macht, der ist von den Marschflugkörpern nicht geflüchtet und nicht zurückgekehrt.

Dableiben können

Im Ausland klammern sich die Zeitungsintellektuellen an ihrem Pazifismus fest und scheuen sich nicht davor, ihre moralische Überlegenheit mit ukrainischen Leben, Vergewaltigungen und Ausbeutung bezahlen zu lassen. Die Politiker:innen klopfen sich auf die Schulter – sie haben so viel in den ersten Monaten geleistet, sie haben sogar ihre Gegner:innen überzeugt, Russland zu verurteilen. Diese Missbilligung und ein bisschen Sanktionen werden den Aggressor schon an den Verhandlungstisch zwingen, bloß sollen "die Ukrainer" nicht zu zimperlich sein. Und jetzt geht’s in den Urlaub, bevor die Energiepreise noch weiter steigen.

Nach endlosen Diskussionen breche ich zusammen, weil der Krieg, ein randvolles Glas davon trage ich in mir herum, über die Ränder zu steigen droht. Abends verkrieche ich mich in die Ecke meines Hotelbetts, krümme mich zusammen wie bei einer Bombardierung und versuche, den Atem wiederherzustellen. Bloß die Nase über dem Wasser halten.

Jetzt, wo mir die Wut ausgegangen ist (was wisst ihr schon von der Müdigkeit), ist es nur der Schmerz, der mich nicht ertrinken lässt. Zu Hause muss ich mich an ihn nicht halten. Dort lebe ich im Krieg und nicht er in mir. Er zeigt mir, dass die Sicherheit unsicher sein kann wie eine Eingangstür aus Eisen, die sich bei einer Explosion verklemmen und mich hinter den einbruchssicher vergitterten Fenstern im eigenen Haus gefangen nehmen kann.

Der Krieg hat mir die Schwäne, die einst wie ferne graue Striche am blauen Himmel nach den Luftströmen suchten, durch die Kampfjets ersetzt. Sie fliegen niedrig und so laut, dass die Katze erwacht und sich unter dem Bett versteckt.

"Brauchst keine Angst zu haben, es sind die Unsrigen", tröste ich sie und gehe hinaus, um mich zu vergewissern, dass es keine Marschflugkörper sind. Hier bin ich mitgefährdet und muss niemandem etwas erklären und darf meinen Schmerz, meine Verletzlichkeit und Tränen in den Brotteig hineinkneten. Und ihr habt keine Ahnung, wie kostbar es ist, dableiben zu können, wo du hingehörst. (Nelia Vakhovska, ALBUM, 30.7.2022)