In den rund 30 Romanen des 1945 geborenen Modiano soll das Schweigen der Elterngeneration gebrochen werden.

Foto: Francesca Mantovani / Editions Gallimard

Das neue Buch des französischen Nobelpreisträgers Patrick Modiano heißt Unterwegs nach Chevreuse, aber eigentlich ist der Autor von 30 schmal-eleganten Romanen ein Leben lang immer nur unterwegs zu sich selbst: Erinnern als unendlicher Prozess in immer neuen, in immer gleichen Assoziationsketten.

Die Tagtraumbilder der Kindheit setzen ein Karussell der Erinnerung in Gang, Schemen, Schatten und Gespenster aus der Vergangenheit tauchen auf, bedrängen ihn, entfalten eine Sogwirkung, auch auf den Leser. Dieser wiederum kennt das halbseidene Modiano-Personal aus Schiebern, Kleinkriminellen, Kollaborateuren und Damen aus dem Rotlichtmilieu schon aus vielen der Romane des leisen Meisters der Grau- und Zwischentöne.

Traumatische Erlebnisse

Ist dieser Ort im Chevreuse-Tal doch der, an dem der Autor und sein zwei Jahre jüngerer Bruder Rudy mit sechs und vier Jahren fast zwei Jahre leben mussten, abgegeben und abgestellt von ihren ewig abwesenden, mit sich selbst beschäftigten Eltern, wie wir aus seinem einzigen, rein autobiografischen, Roman Ein Stammbaum von 2005 wissen.

Diese Zeit mit ihren traumatischen Erlebnissen hat in Modiano ein Gefühl lebenslanger Entwurzelung ausgelöst. Alle seine Romane sind der Suche nach dieser Zeit gewidmet, aber Modiano sucht nicht wie Proust das Paradies der verlorenen Kindheit, sondern deren Gegenstück, die Hölle von Einsamkeit und Verlassenheit, der er erst spät durch das Schreiben entrinnen konnte:

"Ich glaube, dass bestimmte Episoden meiner Kindheit später die Matrix meiner Bücher geworden sind … und ohne, dass er – der Schriftsteller – sich dessen wirklich bewusst wird, kommt dieses Ereignis unter unterschiedlichen Formen wieder und sucht seine Bücher heim", so Modiano in seiner Nobelpreisrede. Im Grunde genommen hat er nur ein einziges Buch geschrieben: "Die gleichen Gesichter, die gleichen Namen, die gleichen Orte, die gleichen Sätze kommen nacheinander wie die Motive in einem Wandteppich, den man im Halbschlaf gewebt hätte", so der Autor weiter.

Detail auf Detail

Nun also Chevreuse, jenes liebliche Tal südwestlich von Paris, in dem der Autor 2020 einige Monate des Corona-Lockdowns verbracht hat. "Chevreuse – der Name würde vielleicht andere Namen anziehen wie ein Magnet", eine Liturgie der Erinnerung in Gang setzen, diesmal über ein damals aktuelles Chanson eines dann wieder vergessenen Sängers: Douce Dame von Serge Latour.

Dieses Chanson zeitigt die gleiche Wirkung wie Prousts Madeleine: Montmartre und Auteuil werden für Jan Bosmans, das Alter Ego des Autors, zu den "Morsezeichen", die ihm helfen, in seine Kindheit zurückzufinden bis zu der magischen Adresse, 38, rue du Docteur-Kurzenne. "Die Zeit hatte nach und nach die einzelnen Abschnitte seines Lebens verwischt, keiner hing mit dem nachfolgenden zusammen, sodass dieses Leben nur eine Folge von Brüchen gewesen war, von Lawinen oder sogar Amnesien."

Er häuft Detail auf Detail, setzt Erinnerungssplitter zusammen, versucht, Bilder aus jenem Abschnitt seines Lebens, die er im Zeitraffer vorüberziehen sah, zu fassen, "bevor sie endgültig ins Vergessen sanken". "Und wenn er den Faden in der Hand hielt, der ihm erlaubte, eine ganze Spule voll zu kriegen"?

Treibsand der Erinnerung

Ausgangspunkt für die Fahrten ins Chevreuse-Tal ist eine geheimnisvolle Wohnung in Auteuil mit einer geheimnisvollen Telefonnummer – Auteuil 15.28, unter der, obwohl längst veraltet, "Stimmen aus dem Jenseits" erklingen. Eine Wohnung, in der nachts überdies Geheimnisvolles geschieht bis zum Morgengrauen … Da der Ich-Erzähler zudem in der Nähe, an der Porte Molitor geboren ist, bildet all das für ihn eine "Geheimprovinz" und "keine Generalstabskarte, auch kein Stadtplan von Paris hätte ihm das Gegenteil beweisen können".

Mehrfach im Leben, zunächst nach 15 Jahren, ist er an diesen denkwürdigen Ort zurückgekehrt: "An die 50 Jahre waren inzwischen verstrichen" seit jener ersten Fahrt ins Chevreuse-Tal. Nun sind Namen, Adressen, Telefonnummern seine obsessiv verwendeten Ankerpunkte, um Halt zu finden im Treibsand der Erinnerung.

Trigger sind auch die immer gleichen Gegenstände: Notizbücher, Feuerzeuge, Kalender, ein Kompass. Auch Ortsnamen auf dem Weg wie Buci: "Bosmans spürte einen Stich im Herzen. Dieser Name, den er vergessen hatte, dieser so kurze und so helle Name, man hätte meinen können, er reiße ihn jählings aus einem langen Schlaf." Starke Körperreaktionen wie Schwindel und Herzpochen unterstreichen neben den zunehmenden Signalen und Morsezeichen, die er aus der Vergangenheit erhält, das Unausweichliche des Erinnerungsprozesses. "Und wie einen roten Faden dafür finden?"

Zwischen Wirklichkeit und Traum

1988 hatte Modiano die Ereignisse um den Aufenthalt in dem geheimnisvollen Haus im Chevreuse-Tal in dem Roman Straferlass ganz aus der Perspektive des Kindes erzählt, mit Märchenelementen versetzt.

2021 blickt er auf mehreren Zeitebenen zurück und verwendet dabei Strukturelemente des Kriminalromans. Der kleine Junge von damals war ein wichtiger Zeuge und wird von den damaligen Akteuren als solcher gesucht.

Seit Jahren daran gewöhnt, "auf einer schmalen Grenze zu leben zwischen Wirklichkeit und Traum", stellt er sich nun den Gespenstern der Vergangenheit. Aber alles Erinnern bleibt bruchstückhaft, in die Aura des Flüchtigen, in nebelhafte Schleier gehüllt. "Flou", verschwommen, ist eines der Lieblingswörter Modianos.

Das Schweigen der Elterngeneration

Der Wunsch, die Geheimnisse seiner Eltern und seiner Kindheit zu enträtseln, das Schweigen über die Verstrickungen während der Okkupationszeit zu entlarven, überhaupt das Schweigen der Elterngeneration zu brechen, steht bei Bosmans wie Modiano am Ausgangspunkt ihres Schreibens.

Dreh- und Angelpunkt ist dabei immer Paris, dessen Geheimnisse Modiano unermüdlich ergründet wie einst Eugène Sue in seinen Fortsetzungsromanen Die Geheimnisse von Paris aus dem Jahr 1843. Am liebsten verwendet er dazu alte, nach Arrondissements geordnete Telefonbücher, die ihm wie Röntgenbilder einer versunkenen Stadt erscheinen.

Patrick Modiano, "Unterwegs nach Chevreuse". Aus dem Französischen von Elisabeth Edl. 22,– Euro / 160 Seiten. Hanser, 2021
Cover: Hanser

Aura des Archivarischen

Sein Paris ist das der 40er- und 50er-Jahre, aber dieses Paris existiert nicht mehr. Es hat sich verändert, ist ein Ort der Erinnerung, der Vergangenheit viel mehr als der Gegenwart. Hier machen sich Verlorene auf die Suche nach Verlorenen, recherchiert er wie in seinem gleichnamigen Roman das Schicksal von Dora Bruder und all der Verschleppten, Deportierten und Ermordeten.

"Dieses Paris hat nie aufgehört, mich zu verfolgen, meine Bücher sind oft in sein verschleiertes Licht getaucht." Es gibt einen wunderbaren Bildband – Paris auf den Spuren von Patrick Modiano –, der die immer wieder erwähnten Orte und Straßen in schönstem Schwarz-Weiß neben die entsprechenden Textstellen aus dem Werk stellt.

Modiano wird zu einem Archäologen der Vergangenheit, all seine Romane umgibt eine Aura des Archivarischen. Paris war ihm durch jahrelanges unermüdliches Durchstreifen zur intimen Seelenlandschaft geworden. Es gibt einen Verdoppelungseffekt: Man geht durch Paris und zugleich durch alle Bücher Modianos.

Echo der Familiengeheimnisse

Das Wort "Schweigen" taucht 23-mal auf in diesem schmalen Band von 159 Seiten, wie ein Echo der undurchdringlichen Familiengeheimnisse und des immerwährenden väterlichen Schweigens. Literatur besteht weniger aus Worten als aus Schweigen, aus Löchern von Schweigen, das wäre eine Kurzfassung seiner Poetik.

Das Verschwimmen der Konturen bei gleichzeitiger fast obsessiver Detailgenauigkeit kennzeichnet seinen Stil, der wie ein Versuch anmutet, wie man ihn von früher an den Metrostationen kennt: Man braucht nur auf einen Knopf zu drücken, und schon werden, wie von Wunderhand erleuchtet, alle Verbindungswege aus dem Dunkel aufgezeigt.

"Im Laufe der Jahre kommen und gehen die Bücher, und die Leser werden von einem ‚Gesamtwerk‘ sprechen. Aber sie werden das Gefühl haben, dass es eine einzige lange Flucht nach vorn war", so Patrick Modiano in seiner Nobelpreisrede. Für ihn ist es die Aufgabe des Schriftstellers, bei den Menschen und Dingen die Schicht des Vergessens zu durchstoßen. (Barbara Machui, 30.7.2022)