Durch den russischen Einmarsch sind die Lebensmittelpreise explodiert – afrikanische Familien zahlen etwa die Hälfte mehr für Weizenmehl.

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Der russische Außenminister Sergej Lawrow versuchte bei seiner Afrikareise eine Charmeoffensive – unter anderem in Äthiopien.

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Die meisten Tote wird der Ukraine-Krieg vermutlich nicht auf den Schlachtfeldern des Donbass oder in den mit Raketen beschossenen Städten des osteuropäischen Landes fordern, sondern tausende Kilometern weit entfernt in Afrika. Während in der Kriegsregion bislang laut Schätzungen 100.000 Soldaten und Zivilisten ums Leben kamen, könnte die Zahl der Todesopfer in Afrika bald in die Millionen gehen.

Nach Angaben des Welternährungswerks der Vereinten Nationen (WFP) hat Putins Krieg bereits mehr als 30 Millionen Afrikanerinnen und Afrikaner zusätzlich in den Hunger getrieben – über die rund 300 Millionen hinaus, die schon vor dem Krieg (auch infolge der Corona-Pandemie) nicht genug zu essen hatten.

Langsamere Reaktion auf Dürre

In Somalia sterben schon heute Menschen, die ohne Ukraine-Krieg nicht hätten sterben müssen. Zwar war es eine hartnäckige Dürre, die die Hungersnot ausgelöst hatte. Doch einer ähnlichen Krise vor fünf Jahren wussten die internationalen Hilfsorganisationen wesentlich besser zu begegnen. Damals reagierten die Gebernationen einigermaßen schnell und angemessen, dieses Mal sind deren Regierungen mit anderem beschäftigt.

Das WFP musste seine im ostafrikanischen Katastrophengebiet verteilten Rationen bereits halbieren. "Wir nehmen unsere Hilfe den Hungernden weg, um sie den Verhungernden geben zu können", klagt WFP-Chef David Beasley. Nicht zuletzt wegen seiner kostspieligen Waffenhilfe für die Ukraine meint sich der Westen die Hungerhilfe nicht leisten zu können. Von den 1,5 Milliarden Dollar, die die Uno für ihr Engagement in Somalia veranschlagt hat, ist bislang weniger als ein Drittel eingegangen.

Hohe Nahrungsmittelpreise

Ein Hoffnungsschimmer könnte die Einigung der Kriegsgegner auf ein Ende der russischen Blockade der ukrainischen Getreideexporte werden: In den Schwarzmeerhäfen der Ukraine liegen 22 Millionen Tonnen Getreide zur Ausfuhr bereit. Doch ob die getroffene Abmachung hält, ist fraglich: Noch hat kein Schiff den Hafen verlassen – noch diese Woche sollte das der Fall sein.

Selbst wenn das gestrandete Getreide seinen Weg nach Afrika irgendwann finden sollte: Der vom Ukraine-Krieg angerichtete Schaden würde damit nur zu einem kleinen Teil behoben. Die nach Putins Invasion im Februar weltweit in die Höhe geschossenen Nahrungsmittelpreise werden wohl nie wieder auf ihr einstiges Niveau fallen: Sie liegen um bis zu 50 Prozent über den Vorkriegswerten.

Weil Afrika jährlich Agrarprodukte im Wert von 80 Milliarden Dollar importiert – davon fast die Hälfte aus Russland und der Ukraine –, wirkt sich die Preisexplosion in den Staaten des Kontinents verhängnisvoll aus: Die Inflation, die in Europa ungemütlich ist, ist in Afrika lebensgefährlich. Schon werden Hungeraufstände wie zu Zeiten des Arabischen Frühlings befürchtet.

Machtkampf im Sudan

Der Sudan leidet gleich in mehrfacher Weise unter dem Schatten des europäischen Krieges. Dort macht sich nicht nur die Explosion der Lebensmittelpreise bemerkbar: 90 Prozent seines Getreidebedarfs hat das Land bisher mit russischen und ukrainischen Importen abgedeckt. Schon jetzt hungern in dem nordostafrikanischen Staat fast zwölf Millionen Menschen, ein Viertel der Bevölkerung.

Hinzu kommt der dramatische Machtkampf, in den Demokratiebefürworter seit Monaten mit den Militärs verwickelt sind. Woche für Woche ziehen zig-, zuweilen sogar hunderttausende Protestierende durch die Straßen der Hauptstadt Khartum, um die Generäle zum Abtritt zu zwingen, die den Reformprozess des Militärstaats im Herbst durch einen Putsch beendet hatten. Heute wird der beispiellose Protestmarathon der Bevölkerung im Ausland kaum noch wahrgenommen. Wer weiß, wie die Machtverhältnisse im Sudan inzwischen aussehen würden, wäre die Aufmerksamkeit der westlichen Diplomatie nicht vom Ukraine-Krieg in Beschlag genommen.

Hilfe aus Moskau

In den Zeiten des Energienotstands will der Westen auch die arabischen Gas- und Ölscheichs nicht vor den Kopf stoßen: Sie stehen hinter dem sudanesischen Militär, weil sie keine Demokratie vor ihrer Haustür wollen. Unterdessen wächst die Zahl der von Soldaten, Milizionären oder Polizisten erschossenen Demonstrantinnen und Demonstranten unaufhaltsam: Sie steht bei über 120, während tausende Regimegegner in den Gefängnissen schmachten.

Außer der Unterstützung der arabischen Ölscheichs können sich die sudanesischen Putschisten auch der Hilfe aus Moskau sicher sein. Seit Jahren befinden sich "Ausbildner" der russischen "Wagner-Truppe" im Land, die sudanesische "Sicherheitskräfte" im Umgang mit der aufsässigen Bevölkerung trainieren. Im Gegenzug wollen die Militärs Russlands Bitte nach einem Marinestützpunkt am Roten Meer nachkommen. Denn Wladimir Putins Großmachtanspruch ist auf eine Präsenz an dem strategisch zentralen Gewässer angewiesen, über das ein Drittel des Weltcontainerhandels abgewickelt wird.

Die engsten Beziehungen zu Russland pflegt Vizeputschist Mohamed Hamdan Dagalo: Der Kommandant der berüchtigten Miliz Rapid Support Forces (RSF) hielt sich sogar am Tag des russischen Überfalls auf die Ukraine in Moskau auf.

Propagandaschlacht am Kontinent

Weniger versteckt als der Hunger der Bevölkerung nach Brot und Demokratie findet in Afrika die Propagandaschlacht der am Ukraine-Krieg direkt oder indirekt beteiligten Mächte statt. Nachdem schon führende westliche Politiker wie Olaf Scholz, Emmanuel Macron und Antony Blinken den Kontinent durchkreuzt hatten, machte sich in der vergangenen Woche auch Russlands Außenminister Sergej Lawrow auf den Weg.

Sein Mantra, das er in Kairo, Brazzaville, in Kampala und Addis Abeba wiederholte: Der Versorgungsengpass sei nicht Moskaus Blockade der ukrainischen Häfen, sondern den westlichen Sanktionen gegen Russland zuzuschreiben. "Wir wissen, dass unsere afrikanischen Kollegen mit den schamlosen Bemühungen der USA und ihrer europäischen Satelliten nicht einverstanden sind, der internationalen Gemeinschaft eine unipolare Weltordnung aufzuzwingen", schrieb der Außenminister in einem von den offiziellen Medien der besuchten Staaten veröffentlichten Beitrag. Russland sei auf der Seite des vom westlichen Kolonialismus noch immer geschundenen Kontinents, so Lawrow – Töne, die in Afrika immer wieder gern gehört werden, weil die Wunden des europäischen Überheblichkeitswahns noch lange nicht verheilt sind.

Nahrungsmittel als Kriegswaffe?

Dabei leidet Lawrows Lesart der Hungerkrise unter offensichtlichen Widersprüchen. Vom Russland-Boykott sind Nahrungsmittel ausdrücklich ausgenommen – und warum verhandelte Moskau über eine Lockerung der ukrainischen Hafenblockade, wenn diese mit dem Versorgungsengpass gar nichts zu tun hat?

Im Gegenzug wirft der Westen Putin den Einsatz von Nahrungsmitteln als Kriegswaffe vor. Russlands Präsident erzeuge absichtlich Hunger, um Europa und die USA zur Beendigung der Sanktionen zu zwingen. Welcher Deutung sich die Afrikanerinnen und Afrikaner anschließen, hängt in erster Linie von ihrer Nähe zur Macht ab. Während sich Autokraten wie Ugandas Dauerherrscher Yoweri Museveni stramm hinter Putin stellen ("Wie können wir jemanden ablehnen, der uns noch nie geschadet hat?", sülzte Museveni während Lawrows Besuch), kam dessen Herausforderer Bobi Wine zu ganz anderen Schlüssen. "Die autoritären Herrscher unseres Kontinents mögen das russische Oligarchen-Modell, weil es der Bereicherung einer Elite dient, während die Bevölkerung leidet", schrieb Wine in einem Beitrag mit zwei anderen afrikanischen Bürgerrechtlern.

Despoten gegen Demokraten

So wird der Kontinent, wie im Kalten Krieg bereits, von den Ereignissen in Europa gespalten. Auf der einen Seite autoritäre Regime, Militärdiktaturen oder die einst von der Sowjetunion unterstützten Befreiungsbewegungen im südlichen Afrika, die, an die Macht gekommen, ausnahmslos im Sumpf der Korruption und des Nepotismus versackten. Für sie ist Putins Russland, das mit seinem "sozialistischen" Vorgänger nichts mehr zu tun hat, vor allem als Waffenlieferant und als Verbündeter gegen den Westen interessant, der seine Finanzhilfe an Demokratisierung und Transparenz knüpft.

Ihnen gegenüber stehen die demokratischen Staaten des Kontinents, die in der UN-Vollversammlung für eine Verurteilung Russlands stimmten, sowie Afrikas Zivilgesellschaften, die sich aus Moskau nichts Gutes erhoffen. Russland bestreitet nicht einmal ein Prozent der in Afrika getätigten Auslandsinvestitionen. Außer Kameraderierhetorik, blutrünstigen Söldnertruppen und billigen Waffen hat Afrika von Putins sterbendem Reich nichts zu erwarten.

Größere Bedeutung für die Region

Bei den zu erwartenden Zusammenstößen zwischen einer verzweifelten Bevölkerung und aufgerüsteten Sicherheitsapparaten könnte sich die russische "Brüderhilfe" sogar verheerend auswirken. Ob im Sudan, in Ägypten, in Mali oder selbst am Kap der Guten Hoffnung: Präsidenten, die sich hinter Russland stellen, spielten mit der Zukunft ihres Landes, sagt Joseph Siegle, Direktor des Washingtoner Afrika-Zentrums für strategische Studien. Sie müssten damit rechnen, künftig links liegengelassen zu werden. Denn Afrika könnte aus dem europäischen Krieg auch Gewinn ziehen.

Nicht nur, dass das Tauziehen um politische Unterstützung die Bedeutung der 54 afrikanischen Staaten aufgewertet hat: Auch wirtschaftlich kommt dem Erdteil – zunächst vor allem im Energiesektor – immer größere Bedeutung zu. Abgesehen von den großen noch nicht erschlossenen Erdgasfeldern, die Europas Abhängigkeit von Russland mindern können, ist der Kontinent auch zum weltweiten Top-Hersteller des "grünen" Wasserstoffs prädestiniert: Das gleißende Sonnenlicht, die böigen Meeres- und Wüstenwinde sowie der vielerorts herrschende Wasserreichtum sind zur Produktion des Energieträgers der Zukunft bestens geeignet. Mitte des Jahrhunderts wird in Afrika außerdem die Hälfte der gesamten Erdbevölkerung leben: Keine Regierung kann es sich leisten, den Kontinent wie bisher als Nebensache zu behandeln. Der Schatten, den der Ukraine-Krieg auf Afrika wirft, mag überwältigend sein. Doch daneben kommt auch etwas Licht zum Vorschein. (Johannes Dieterich aus Johannesburg, 29.7.2022)