Junge Menschen setzen sich heute grundsätzlich viel mehr als früher mir ihrer Geschlechtsidentität auseinander, sagen Expertinnen und Experten.

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Laure trägt T-Shirts, weite Hosen und ihre Haare kurz. Sie geht breitbeinig, die Hände in den Taschen. Laure sieht nicht aus, wie man sich klassischerweise ein Mädchen vorstellt, und sie möchte auch keines sein. Als ihre Familie umzieht, stellt sich die Zehnjährige bei den Kindern aus der Nachbarschaft als "Michael" vor.

Sie rauft mit den Buben, spuckt wie sie auf den Boden und spielt oben ohne Fußball. Im Spiegel daheim kontrolliert sie, ob ihr hoffentlich noch keine Brüste wachsen. Als die Gruppe baden geht, formt sie aus Knetmasse einen Penis, den sie sich in die Badehose steckt. Und sie verliebt sich, in Lisa. Laure ist die Hauptfigur in dem französischen Spielfilm Tomboy – ein Mädchen, das sich fühlt, anzieht und verhält wie ein Junge.

Geschichten wie diese gibt es nicht nur im Film. Man hört sie auch im Bekanntenkreis, liest sie in den sozialen Medien. Sie handeln von Kindern und Jugendlichen, die Zweifel daran haben, wer sie sind. Bub statt Mädchen? Mann statt Frau? Michael statt Laure? Ihre Eltern sind oft ratlos. Sie machen sich Sorgen, fragen sich, ob das "nur eine Phase" ist und wie es jetzt weitergeht. Sie wollen bestmöglich für ihr Kind da sein, wissen aber auch nicht so recht wie.

Das Kind ernst nehmen

Für Elisabeth Cinatl, Familientherapeutin in Wien, ist es absolut verständlich, dass Eltern verunsichert sind. "All die Ängste, all die Fragen, all das, was in ihnen vorgeht, darf sein." Den Kindern seine Sorgen an den Kopf zu werfen und ihnen zu sagen, dass das ja nur eine Phase ist, sei nicht ratsam. "Denn damit signalisiert man ihnen, dass man sie nicht ernst nimmt."

Wenn jemand so empfindet, sei "das Leid ohnehin schon groß und das Outing schwer", sagt Cinatl. Ihr Appell an Eltern lautet deshalb, einfühlsam zu sein und vorsichtig nachzufragen: Wie fühlt sich mein Kind? Was geht in ihm vor? "Sie sollten es auch ermutigen, über seine Sorgen zu sprechen, denn das ist ja auch nicht einfach." Wenn Eltern merken, dass es dem Kind unangenehm wird, sollten die Fragen jedoch enden.

Die Psychotherapeutin, die mit ruhiger Stimme spricht und ihre Worte mit Bedacht wählt, arbeitet in ihrer Praxis mit jungen Erwachsenen, die sich nicht mit ihrem biologischen Geschlecht identifizieren können. In langen Gesprächen versucht sie herauszufinden, wie sich dieses Gefühl entwickelt hat. Manche ihrer Klientinnen oder Klienten seien in strenge Geschlechterrollen gedrängt worden, fühlten sich aber einfach nicht wohl als der unsensible Macho oder die gutmütige Prinzessin, als die sie großgezogen wurden.

Manche wüssten sicher, dass sie im anderen Geschlecht leben wollen, also eine Transidentität haben. Während es für die einen reiche, ihren weiblichen oder männlichen Anteil mehr zu leben, änderten andere ihren Namen. Wieder andere würden sich für Hormone und eine Operation entscheiden.

Eltern müssten respektieren, wofür ihr Kind sich entscheide, sagt Cinatl – sonst laufen sie Gefahr, dass es sich ihnen nicht mehr anvertraut. Ihr Rat lautet: "Fragen Sie es, wie es jetzt angesprochen werden möchte. Sagen Sie aber auch dazu: Ich bemüh mich, aber du warst 15 Jahre lang mein Sohn, und wenn es mir anders herausrutscht, tut es mir leid."

"Fragen Sie ihr Kind, wie es jetzt angesprochen werden möchte. Sagen Sie aber auch dazu: Ich bemüh mich, aber du warst 15 Jahre lang mein Sohn, und wenn es mir anders herausrutscht, tut es mir leid."
Elisabeth Cinatl, Familientherapeutin

Mehr Junge in Beratung

Ob heutzutage mehr Jugendliche als früher mit ihrem Geschlecht hadern, lässt sich nicht eindeutig beantworten. Aus Schweden gibt es Daten, die zeigen, dass es immer mehr Transjungen gibt, also Buben, die als Mädchen geboren wurden. Zwischen 2008 und 2018 wuchs ihre Zahl offenbar um 1500 Prozent. Auch deutsche Psychiater berichten, dass in die Ambulanzen immer mehr Jugendliche kommen, die das Gefühl haben, im falschen Geschlecht zu leben. Gesicherte Zahlen gibt es aber nicht, auch nicht für Österreich.

Die Psychotherapeutin Cinatl glaubt nicht an einen Anstieg. Sie ist vielmehr der Meinung, dass nur mehr junge Menschen sich outen. "Das Thema ist besprechbarer geworden." Das habe auch damit zu tun, dass es mehr Vorbilder gebe als früher. So behandelt eine Vielzahl an Influencern und Foren das Thema "trans". Auch Prominente wie der Sänger Mavi Phoenix oder der Transschauspieler Elliot Page bestärken Jugendliche darin, sich mitzuteilen. "An Vorbildern sehe ich, dass ich auch anders leben, anders empfinden kann", sagt Cinatl. Im Netz tauschen sich Gleichgesinnte aus, Kinder und Jugendliche finden Begriffe dafür, wie sie sich fühlen.

DER STANDARD

"Die meisten haben sich schon sehr viel mit dem Thema auseinandergesetzt, wenn sie zu uns kommen", sagt Johannes Wahala. Der Psychotherapeut und Pädagoge leitet die Beratungsstelle Courage, an die sich Familien mit Kindern, die sich als transident empfinden, wenden können.

Zurückgelehnt in seinen orangefarbenen Fauteuil erzählt Wahala von seiner Beobachtung, dass junge Menschen sich heute grundsätzlich viel mehr als früher mir ihrer Geschlechtsidentität auseinandersetzen. Sie hinterfragten die starre Einteilung in Mann und Frau. Für Wahala ist das kein "Hype", wie es einige seiner Kollegen bezeichnen, für ihn ist das "eine gesellschaftliche Veränderung, die positiv ist".

Schmerzhafte Pubertät

Bei den meisten jungen Menschen, die er begleitet, geht die Pubertät gerade so richtig los – und damit eine Zeit, die für transidente Jugendliche schmerzhaft sei. Den Mädchen wachsen Brüste, die Burschen kommen in den Stimmbruch. Wer damit nicht einverstanden sei, leide sehr. Zeige sich in einer Psychotherapie, dass das Leiden und das transidente Empfinden anhielten, gebe es die Möglichkeit für pubertätshemmende Hormone.

Neben den Jugendlichen kämen auch jüngere Kinder. "Das jüngste ist derzeit vier Jahre alt." In solchen Fällen gehe es darum, "das Kind nicht in Stereotype hineinzuzwingen, sondern ihm ein Umfeld zu bieten, in dem es sich entfalten kann." Das helfe meist schon.

Interessant ist, dass mehr Mädchen, die ein Bub sein wollen, in die Beratung kommen als umgekehrt. Über die Ursache kann Wahala nur mutmaßen: "Vielleicht liegt es daran, dass Mädchen wegen der Menstruation mit der Pubertät größere Schwierigkeiten haben. Oder es ist so, dass sie schneller in Geschlechterrollen gedrängt werden."

Wenn das Unbehagen, im falschen Körper zu sein, ganz deutlich ist und länger andauert, sprechen Fachleute von einer "Genderdysphorie". Bei einigen Jugendlichen, die Wahala berät, stellt sich heraus, dass das zutrifft. Aber nicht bei allen. "Manche fühlen sich einfach in den gängigen Geschlechterrollen nicht wohl, sind verunsichert, haben Fragen." Auf der Suche nach Antworten werden sie möglicherweise im Internet fündig und denken sich: "Vielleicht bin ich ja auch trans?" Dann sei es wichtig, "dass wir ihnen professionelle Beratungen bieten".

Professionelle Hilfe holen

Zur Frage, wie Eltern damit umgehen, wenn ihr Kind das Geschlecht wechseln will, sagt auch Wahala, dass es vor allem auf Feingefühl ankomme. Vielen Eltern fehle dieses zunächst. "Die Jugendlichen, die zu mir kommen, beklagen oft, dass Mama und Papa sie nicht verstehen. Ich sage ihnen dann: Wie du ein Coming-out hast, haben auch deine Eltern etwas Ähnliches. Sie sind verunsichert und irritiert, wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen."

"Die Jugendlichen, die zu mir kommen, beklagen oft, dass Mama und Papa sie nicht verstehen. Ich sage ihnen dann: Wie du ein Coming-out hast, haben auch deine Eltern etwas Ähnliches. Sie sind verunsichert und irritiert, wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen."
Johannes Wahala, Leiter der Beratungsstelle Courage

Für die Eltern ist das ein Lernprozess. Wenn sie sich dabei therapeutische Hilfe holten, sei das nicht nur für sie, sondern auch für ihre Kinder eine Entlastung. "Sie müssen sich nicht ständig darum sorgen, wie es ihren Eltern geht, und Schuldgefühle haben."

Im Film Tomboy zwingen die Eltern ihre Tochter irgendwann, ein Kleid anzuziehen und allen zu sagen, dass sie eigentlich Laure heißt und nicht Michael. Das ist laut den Experten der absolut falsche Weg. "Damit bricht man den Willen des Kindes, was aus entwicklungspsychologischer Sicht absolut kontraproduktiv ist", sagt Psychotherapeutin Cinatl.

Für Wahala ist es "wichtig, zu respektieren, wie sich das Kind wahrnimmt. Mit dem Wissen, dass es nicht in Stein gemeißelt ist und sich verändern kann. Gerade in diesen Jahren der Entwicklung." Eltern sollten ihre Kinder auch nicht ungefragt outen, sondern sie fragen, ob und wie man es etwa der Oma sagen soll. Und wenn die Tochter bei der Hochzeit der Tante einen Anzug tragen wolle, solle man das erlauben. Auch wenn es vielleicht schwerfällt, weil es so lange anders war. (Lisa Breit, 30.7.2022)