"Ich freue mich darauf, Viktor Orbán in Wien zu begrüßen!", twitterte Österreichs Kanzler Karl Nehammer vor wenigen Tagen, um dem Satz mit einem Rufzeichen noch zusätzlich Gewicht zu verleihen.

Zwei Tage später fantasierte der ungarische Premierminister in einer Rede vor Anhängern im rumänischen Kurort Baile Tusnad von einer "Welt, in der sich die europäischen Völker mit den Ankömmlingen von außerhalb Europas vermischen", Ungarn hingegen wolle nicht "gemischtrassig" werden. Und schließlich streifte Orbán das Thema "Gasverbrauch" und feixte, Deutschland habe hier "Know-how" – unzweifelhaft in einer Anspielung auf die Gaskammern des Nazi-Regimes. Seine langjährige Mitstreiterin, die Soziologin Zsuzsa Hegedüs, trat daraufhin empört über die – wie sie sagte –"Goebbels-würdigen" Aussagen zurück.

Kanzler Karl Nehammer traf den ungarischen Premier Viktor Orbán in Wien.
Foto: epa / Max Bruckner

Nehammer sah sich – wohl auch gezwungen durch den öffentlichen Druck – in der Pflicht, die Sache beim Treffen mit Orbán am Donnerstag in Wien zur Sprache zu bringen. Österreich habe eine klare Position, sagte Nehammer, jede Form von Rassismus und Antisemitismus werde kategorisch abgelehnt. Das habe er Orbán mitgeteilt, aber man habe diese sensiblen Punkte "in aller Freundschaft aufgelöst".

Orbán spielte seine Rede herunter und sprach lediglich von einem "kulturellen Standpunkt".

Gute rechte Beziehungen

Nehammers "Klarstellung" der österreichischen Position dem ungarischen Premier gegenüber ändert freilich wenig an der grundsätzlichen guten Beziehung seiner Partei zu rechtsgerichteten Bewegungen wie eben auch jener der Orban’schen Fidesz. Nehammers ÖVP steht hier in einer langen Tradition christdemokratischer Parteien.

Der Wiener Politikwissenschafter Fabio Wolkenstein hat jetzt exakt zu diesem Thema eine wissenschaftliche Arbeit veröffentlicht, in der er der "Geschichte einer autoritären Versuchung" in der Christdemokratie europaweit nachspürt.

Politikwissenschafter der Uni Wien, Fabio Wolkenstein.
Foto: Patrick Wollner

Wolkenstein geht in seiner Publikation mit den Christlichsozialen hart ins Gericht: Die Christdemokratie könne sich unter Rückgriff auf ihre eigene Vergangenheit und ideologischen Ressourcen "weit über die Mitte nach rechts ausstrecken. Sie muss sich nicht verstellen oder verraten, wenn sie die Annäherung an reaktionäre und autoritäre Wähler sucht. Deshalb ist Viktor Orbáns Behauptung, die Christdemokratie sei ‚per definitionem nicht liberal‘, sondern ‚illiberal‘, auch die eine Hälfte der Wahrheit", schreibt Wolkenstein.

Autoritäre Versuchung

Zwar seien christdemokratische Parteien in der Vergangenheit insgesamt demokratischer geworden. "Aber die Geschichte ihrer autoritären Versuchung setzt sich bis heute fort. Der von Viktor Orbán und seinem Umfeld so vehement vertretene Antiliberalismus hat innerhalb der christdemokratischen Theorie und Praxis tatsächlich eine große Rolle gespielt", notiert Wolkenstein. Bemerkenswert dabei sei die Bereitschaft der Europäischen Volkspartei (EVP), Orbán und Fidesz bis Februar 2021 immer wieder in Schutz zu nehmen.

Ein kurzer Blick zurück: Noch in den späten 1950er-Jahren hatten sich große Teile der deutschen Christdemokraten scharf von den Traditionen des liberalen Denkens abgegrenzt. Insbesondere für die katholischen Flügel galt der Liberalismus als "unvereinbar mit den Grundsätzen, auf denen die Unionsparteien ruhten". Zudem wäre die enge Zusammenarbeit mit nationalkonservativen Parteien und Politikern, mit der jetzt zum Beispiel Orbán liebäugelt, "wohl kaum ein schockierender Tabubruch innerhalb der christdemokratischen Parteienfamilie gewesen", befindet Wolkenstein.

Schon der "Kommunistenfresser" Franz Josef Strauß habe in den 1970er-Jahren eng mit antidemokratischen und sogar neofaschistischen Parteien in Spanien, Portugal und Italien zusammengearbeitet. Die Distanzierung vom rechten Rand sei – historisch betrachtet – jedenfalls "nicht der selbstverständliche Modus Operandi der Christdemokratie".

Österreich habe mit dem Austrofaschismus da ja ein eigenes Kapitel geschrieben.

Der katholische Glaube

Die christlichsozialen Parteien, einschließlich der ÖVP, hätten in ihrem Bemühen um politische Identität eine beachtliche Aufgabe zu meistern, um selbst extrem rechte Bewegungen einzubinden. "Die politische Integration einer Vielzahl heterogener Gesellschaftsgruppen, inklusive nationalkonservativer, reaktionärer und autoritärer Milieus, bedeutet, große weltanschauliche Gegensätze in sich zu vereinen", sagt der Politikwissenschafter.

Es musste eine Formel gefunden werden, um die sozialkatholische Klientel, die Wohlstand für die Arbeiterschicht forderte, ebenso "an der Stange zu halten" wie "das konservative Bürgertum, das die Sozialausgaben niedrig halten wollte – und gleichzeitig zutiefst gläubige Bauern, mächtige Industrielle, nationalkonservative Souveränitätsverfechter und überzeugte Europa-Föderalisten".

Die Integration dieser unterschiedlichen sozialen Gruppen halte der katholische Glaube, die katholische Soziallehre und ein gewisser "Antisozialismus" zusammen.

Komplexer Hintergrund

Fabio Wolkenstein, "Die dunkle Seite der Christdemokratie". 17,50 Euro. Verlag C.H.Beck
Cover: C. H. Beck

Vor diesem komplexen gesellschaftspolitischen Hintergrund sei ein klares, kantiges politisches Profil im Grunde hinderlich. Deshalb verzichteten die Christdemokraten auch bewusst auf die Formulierung großer, inhaltlich konsistenter Parteiprogramme und vertrauten stattdessen auf die politische Sozialisierung ihrer Anhängerschaft durch Kirchen oder Vereine.

Und sie setzten auf charismatische Führungspersönlichkeiten, die mit rhetorischem Geschick und weltanschaulicher Flexibilität Signale an unterschiedlichste Wählergruppen senden konnten. "Sebastian Kurz sei hier für die Gegenwart exemplarisch erwähnt", sagt Wolkenstein.

Es gab aber auch christlich-soziale Parteien, die an der Korruptionsbereitschaft ihrer Politiker gescheitert sind, wie die Democrazia Cristiana (DC), die ehemals dominierende christdemokratische Partei Italiens, die sich nach etlichen Skandalen zersplittert und schließlich aufgelöst hatte.

Geht die ÖVP unter?

Nach der Performance der vergangenen Monate, den Korruptionsermittlungen, von denen Teile der Elite der Partei betroffen sind, dem Absturz in den Umfragewerten: Kann nicht der ÖVP ein ähnliches Schicksal wie der italienischen DC drohen?

"So dramatisch wird es nicht kommen, aber es schaut tatsächlich nicht gut aus für die österreichischen Christdemokraten, aber sie sind anpassungsfähig", sagt der Politologe Fabio Wolkenstein im Gespräch mit dem STANDARD und ergänzt: "Auch wenn es derzeit düster aussieht, ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Was zudem hilft: Gerade weil programmatisch und ideologisch wenig Substanz vorhanden ist, ist die Gefahr eher gering, dass sich ein Flügel abspaltet und eine neue Partei gründet. Vielleicht kann die ÖVP ihre derzeitige Krise einfach aussitzen." (Walter Müller, 30.7.2022)