Die Regierung ging in ihrem Pandemiemanagement lange vergleichsweise vorsichtig vor.

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Angst? Nein, sagt der Landwirt Martin Stöllinger, die habe er nie wirklich gehabt, wobei ein wenig vielleicht, zu Beginn der Pandemie. Damals hätte ihn die Sorge umgetrieben, dass das wirtschaftliche System kollabiere und am Ende seine Milch nicht mehr abgeholt werde.

Aber davon abgesehen "haben wir geschaut, dass wir so normal wie möglich weitertun". Alle in der Familie erkrankten bereits an Corona, ohne schwere Verläufe, erzählt der 37-jährige Innviertler. Im Jahr drei der Pandemie vertritt er die Meinung, dass man mit dem Virus umgehen lernen müsse: "Vielleicht hätte man es von Anfang an so machen müssen, dass es eine normale Krankheit ist."

Das ab August eintretende Ende der Quarantäne befürwortet der Milchbauer. Zwar sei den Menschen in der Gesundheitskrise "viel vom Hausverstand abgestorben", er vertraue aber darauf, dass "jeder selber mitdenke". Und: "Wir können uns ja nicht auf ewig isolieren."

Landwirt Martin Stöllinger vertritt die Meinung, dass man mit dem Virus umgehen lernen müsse.

Vergleichsweise vorsichtig

Die österreichische Regierung, die lange einen vergleichsweise vorsichtigen Weg im Pandemiemanagement ging, lässt von Montag an die letzte Maßnahme im Kampf gegen das Coronavirus fallen. Um der krisengeplagten Bevölkerung ein wenig Ruhe zu vergönnen, beendet die schwarz-grüne Koalition die Quarantäneverpflichtung für symptomfreie Corona-Infizierte. Zumindest führte Gesundheitsminister Johannes Rauch das als ein Argument für das Absonderungs-Aus an.

Die Krisen, sie ballen sich dieser Tage tatsächlich. Der Krieg in der Ukraine, fehlende Gasreserven, die steigenden Energiepreise, blockierte Lieferketten, die Inflation, Hitzerekorde, Dürre, überhaupt: der Klimawandel. Die Welt taumelt seit einigen Monaten von einer Herausforderung zur nächsten, während die Pandemie auch nach zweieinhalb Jahren keine Verschnaufpause zulässt.

Die Situation sei heute eine andere als zu früheren Zeitpunkten der Gesundheitskrise, erklärte Rauch zuletzt im ORF-Interview: Medikamente und Impfungen würden Schutz bieten, die Krankheitsverläufe seien milder, und dadurch sei es angebracht, Schutzmaßnahmen sowie wirtschaftliche und gesellschaftliche Aspekte neu abzuwägen.

Zumal, so gab es der grüne Minister zu verstehen, Teuerung und Energieknappheit schon bald noch mehr Herausforderungen bringen werden. Auch, um die gesellschaftlichen Gräben zuzuschütten, die in der Pandemie aufgerissen wurden, gelte es nun umso dringender, einen Modus zu finden, um mit der Pandemie leben zu lernen.

"Epidemiologisch vertretbar"

Welches Risiko aber geht die Regierung damit ein, wenn Infizierte, die sich nicht krank fühlen, mit August zwar Maske tragen müssen, aber damit weitgehend am öffentlichen Leben teilnehmen dürfen? Rauch macht keinen Hehl daraus, dass er bereit ist, bei den Corona-Maßnahmen "ans unterste Ende" zu gehen von dem, "was epidemiologisch noch vertretbar ist", wie er es selbst formulierte, kurz nachdem der Entwurf zum Ende der Isolation an die Medien gespielt worden war.

Er wolle "verheerende Kollateralschäden" vermeiden, verteidigte Rauch den Schritt, für den er zuvor gehörig gescholten worden war. Dass er in dem Zusammenhang falsche Zahlen zur Suizidalität unter Kindern und Jugendlichen präsentierte, befeuerte die Kritik umso mehr.

Bis zur Ära Rauch galten die Grünen als die Strengen im Corona-Management. Seine beiden Vorgänger im Amt hatten sichtbar Schwierigkeiten damit, Öffnungen zu verteidigen, auf die zumeist der türkise Regierungspartner gepocht hatte. Das politische Urgestein aus Vorarlberg tickt anders.

Die Bereitwilligkeit, sich durch eine Impfung vor einer schweren Erkrankung zu schützen, nimmt ab.
Illustration: Armin Karner

Kanzler Karl Nehammer (ÖVP) verteidigte das Vorgehen in einer Pressekonferenz nach dem Sommerministerrat am vergangenen Mittwoch ebenso. Er verwies auf die "neue Datenlage", "die es nicht rechtfertigt, Menschen unverhältnismäßig einzusperren". Druck für diesen weiteren Öffnungsschritt hatten zuvor einige Bundesländer sowie Wirtschaftstreibende gemacht. Die SPÖ und rot geführte Bundesländer, allen voran Wien, laufen allerdings Sturm dagegen.

Umfragen

Die Bevölkerung zeigt sich in der Frage gespalten. In einer vergangene Woche durchgeführten Gallup-Umfrage sprachen sich 55 Prozent der Befragten gegen ein Ende der Absonderungsverpflichtung für symptomfreie Infizierte aus, ein Drittel begrüßte sie. Aus einer Befragung des Meinungsforschungsinstituts Unique Research für das Wochenmagazin Profil ging hervor, dass 47 Prozent an der Quarantäne festhalten wollten. Ein weiteres Viertel wollte sie "auf jeden Fall" aufgehoben sehen, 20 Prozent waren "eher" für ihr Ende.

Die Bereitschaft, für die Eindämmung des Virus weitere Freiheitseinschränkungen mitzutragen, schwindet ebenso seit geraumer Zeit wie die Sorge vor einer Infektion mit Sars-CoV-2. Im Juni gaben in einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Gallup 46 Prozent der Befragten an, sich zwar durchaus vor einer Ansteckung zu fürchten – dennoch zeigten sich weniger als zwei Drittel der Befragen zu persönlichen Restriktionen bereit: Ein Wert, der zu Beginn der Pandemie bei 95 Prozent und Ende 2021 noch bei rund 70 Prozent lag.

Änderung der Stimmungslage

Auch die Bereitwilligkeit, sich durch eine Impfung vor einer schweren Erkrankung zu schützen, nimmt ab: Während die Gruppe jener, die Corona-Vakzine strikt verweigert, im Lauf der Pandemie relativ konstant geblieben ist, ändert sich allmählich die Stimmungslage bei den bereits Geimpften.

Auf die Frage, ob sie sich einen weiteren sogenannten Stich holen wollen, antwortete knapp ein Fünftel mit Nein – ein Spitzenwert, noch im November lehnten das nur sechs Prozent ab. Zeitgleich sank auch das Vertrauen in die Regierung. Der Anteil jener, die mit ihrer Krisenbewältigung zufrieden sind, bleibt Gallup-Befragungen zufolge niedrig. Momentan sind es demnach nur noch sechs Prozent, die angeben, sie würden der Regierung in ihrem Pandemiemanagement "sehr" vertrauen, etwa ein Viertel "sehr" oder zumindest "eher".

Corona als normale Krankheit ähnlich der Influenza zu behandeln ist aus virologisch-epidemiologischer Sicht nicht zulässig.
Illustration: Armin Karner

Generell hat die Regierung mit schlechten Umfragewerten zu kämpfen, denen es auch angesichts von vier Landtagswahlen entgegenzuwirken gilt. Ihr Versuch, inmitten multipler Krisen ein Stück weit Normalität herstellen zu wollen, mag zwar von der Bevölkerung durchaus mitgetragen werden – wie unvernünftig aber ist er? Aus virologisch-epidemiologischer Sicht ist die Antwort darauf eindeutig: Corona als normale Krankheit ähnlich der Influenza zu behandeln ist demnach nicht zulässig.

Herwig Kollaritsch, Infektiologe an der Med-Uni Wien und Mitglied des nationalen Impfgremiums, sagt, das hieße Äpfel mit Birnen zu vergleichen: "Influenza ist völlig anders. Abgesehen von der viel höheren Reproduktionsrate ist Sars-CoV-2 um ein Vielfaches infektiöser, das Virus mutiert permanent und erhöht seine Fitness, also wird ansteckender. Das tut Influenza nicht." Zudem setzen Influenzawellen konstant saisonal ein: mit kurzen, heftigen Höhepunkten im Winter, dann sind sie vorbei – im Sommer kommt die echte Grippe kaum vor. "Das sind eklatante Unterschiede", betont Kollaritsch.

Unvorhersehbare Dynamik

Auch Andreas Bergthaler, Molekularimmunologe an der Med-Uni Wien, nennt die unvorhersehbare Dynamik von Sars-CoV-2 den zentralen Punkt: "Man weiß einfach nicht, ob beziehungsweise wann eine neue Variante auftaucht und wie die sich dann auswirken wird." Unser Erfahrungshorizont mit dieser Krankheit sei nun einmal nur "drei Sommer lang. Das ist, in evolutionären Zeiträumen gedacht, ein Wimpernschlag".

Zudem stellt auch Long Covid weiterhin ein Problem dar, also diffuse Langzeitfolgen, die nach einer Corona-Infektion deutlich häufiger aufzutreten scheinen als bei anderen Krankheiten. Immerhin existiert aber mittlerweile eine durch Impfungen und Infektionen erreichte Grundimmunität in der Gesellschaft. Und die kommt uns laut Bergthaler tatsächlich zugute: "Diese Grundimmunität ist der Grund, warum die Omikron-Varianten von vielen als mild bezeichnen werden. Ohne Impfungen würde es ziemlich sicher anders aussehen."

Darauf würden auch Studien aus England hinweisen. Wer fit und im besten Alter sei, für den oder die gebe es "derzeit nicht wahnsinnig viele Unterschiede zu einer Grippe", sagt Bergthaler. Wobei sich das aber rasch wieder ändern könne. Für die "Population als Gesamtes" besteht außerdem nach wie vor ein "deutlich höheres und in die Zukunft gesehen unkalkulierbares Risiko". Deshalb, so der Molekularbiologe, bräuchten vulnerable Gruppen "konkretere Angebote, die ihnen mehr Sicherheit vermitteln und zeigen, dass ihre Bedürfnisse gehört und verstanden werden".

Fokus auf Risikogruppen

Long Covid stellt weiterhin ein Problem dar.
Illustration: Armin Karner

Ähnlich argumentiert auch Gerald Gartlehner. Der Epidemiologe an der Donau-Universität Krems hat das Ende der Isolationspflicht schon mehrmals als vertretbar bezeichnet – wenngleich er immer auch anregt, einen Fokus auf Risikogruppen zu legen: Diese sollten etwa rasch von der Notwendigkeit einer vierten Impfung überzeugt werden.

Da die aktuelle BA.5-Variante aber sehr infektiös sei und man am Anfang einer Infektion, noch ehe man Symptome entwickle, bereits andere Menschen anstecken könne, habe die Isolation von Infizierten nur noch geringe Auswirkungen auf das Pandemiegeschehen, sagte Gartlehner jüngst zur Nachrichtenagentur APA. Er verwies zudem auf die Erfahrung im Ausland. In jenen Ländern, die bereits alle Maßnahmen fallen haben lassen, entwickelten sich die Lage zeitversetzt ähnlich wie in Österreich.

Niedrigere Impfquote

England und Norwegen haben schon im Februar trotz hoher Neuinfektionen als erste Länder die Quarantänepflicht für positiv Getestete aufgehoben – mit dem Unterschied allerdings, dass dort, ebenso wie in Spanien, die Impfquote generell, vor allem aber bei der gefährdeteren älteren Bevölkerung, höher ist als hierzulande. Anschließend stiegen zwar die Zahlen, schwere Verläufe und Todesfälle wurden allerdings nur wenige registriert.

DER STANDARD

Auch in der Schweiz und in Liechtenstein fiel die Entscheidung für ein Ende der Selbstisolation im April, Slowenien zog im Mai nach. Im Rest Europas, unter anderem in Deutschland, mehren sich nun die Rufe nach einem Fallenlassen der Maßnahmen.

Einige Länder, darunter auch die Schweiz, erklärten die Sommerwelle bereits für beendet: Die Zahlen gingen zurück, allerdings: die Testungen ebenso. Hans Kluge, Europa-Direktor der WHO, warnte deshalb kürzlich vor einem "gefährlichen blinden Fleck" – und mahnte ein: Die Herbstwelle komme bestimmt. (Bianca Blei, Anna Giulia Fink, Pia Kruckenhauser, Stefanie Ruep, 30.7.2022)