Sakraler und profaner Ritus: Prozession auf Feldweg vor Schloss Prinzendorf – mit Kreuzigungsszene und Blaskapelle.
Foto: HERMANN NITSCH GMBH / FOTO FEYERL

Im Mund hat man noch den Geschmack von Paprikahendl und anschließenden Marillenknödeln. Da steht man schon vor einem toten Schwein, das kopfüber an seinen Hinterbeinen hängt. In eine Seitenwunde dürfen Teilnehmende ein Gläschen Blut kippen. Den Rumpf entlang rinnt es in roter Bahn, bis es einem jungen Mann auf die Stirn tropft. Dieser liegt mit verbundenen Augen und an ein hölzernes Kreuz befestigt darunter. Als Gläubige stehen die Teilnehmer in einer Reihe und harren geduldig aus. Daneben warten Bottiche voller Eingeweide, Kübel mit Blut auf ihren Einsatz. Unzählige Blumensträuße (Rosen, Nelken, Dahlien, Sonnenblumen) ehren die Opfer, die Natur und ihre Götter. Wir bitten euch, erhöret uns!

Eine Räucherschale wird umher getragen, Weihrauch und andere Düfte mischen sich mit leichtem Verwesungsgestank. Währenddessen bäumt sich die Musik auf, wird immer lauter: Zwei Orchester mit insgesamt 100 Musikern und Musikerinnen (Streicher, Bläser, Synthesizer) spielen auf ihren Instrumenten, oft halten sie minutenlang einen einzigen Ton. Auch, wenn alles andere verstummt, tönt omnipräsente Orgelmusik aus meterhohen Anlagen. Gongs werden geschlagen, Glocken geläutet. Die Sonne bricht durch die Wolken, der reinwaschende Regen hat ein Ende genommen. Der Hahn kräht. Alle Sinneseindrücke verschmelzen zu einer Gesamtemotion.

Insgesamt beteiligen sich 60 Akteure und Akteurinnen bei den posthum verwirklichten Spielen.
Foto: HERMANN NITSCH GMBH / FOTO FEYERL

Sonnenaufgang bis Sonnenaufgang

Diese Zeremonie muss ohne ihren großen Meister auskommen. Es sind dessen exakte Pläne, nach denen all das realisiert wird: Das 6-Tage-Spiel des Orgien Mysterien Theaters von Hermann Nitsch. Dieses orgiastische, metareligiöse, urdramatische, rituelle Gesamtkunstwerk spricht als Aktionstheater in seiner Intensität alle Sinne an, vereinnahmt Körper und Geist – und stellt das Hauptwerk von Nitsch dar. All seine Aktionen, seine Malerei und Musik bezeichnete der Künstler als Vorstufen dieser Arbeit. Eigentlich für 2020 geplant, musste das Spiel wegen der Corona-Pandemie sowie seiner Malaktion in Bayreuth für die "Walküre" auf diesen Sommer verschoben werden. Sein Schöpfer erlebte ihn nicht mehr. Nitsch starb am Ostermontag dieses Jahres im Alter von 83 Jahren.

Posthum und auf seinen ausdrücklichen Wunsch, werden die ersten zwei Tage des insgesamt sechs Tage und sechs Nächte dauernden Spiels dieses Wochenende zur Aufführung gebracht: Von Samstag Sonnenaufgang bis Montag Sonnenaufgang. Nach einer exakten Partitur, an der Nitsch die letzten zwei Jahrzehnte arbeitete, konnte seine Witwe Rita Nitsch gemeinsam mit Adoptivsohn Leonhard Kopp, Andrea Cusumano (Dirigent), ehemalige Assistenten Frank Gassner und Josef Smutny sowie dem Team der Nitsch Foundation die Gesamtkomposition auf Schloss Prinzendorf an der Zaya in Niederösterreich umsetzen. Insgesamt sind 60 Akteure und Akteurinnen beteiligt, viele davon begleiten den Künstler bereits seit Jahrzehnten. 500 Tickets wurden für das Wochenende verkauft.

Lungen, Gedärme und viel Blut in Schweinebauch. Alle verwendeten Tiere waren für die Schlachtung bestimmt.
Foto: HERMANN NITSCH GMBH / FOTO FEYERL

Lungenflügel und Cherrytomaten

Das Barockschloss, das Nitschs zweite Frau Beate Anfang der 1970er-Jahre erwarb, nützte der Künstler über fünf Jahrzehnte als Lebens- und Arbeitsmittelpunkt sowie als Schauplatz seiner Aktionen. "Schloss Prinzendorf wurde mein Theater. Diese Schlossanlage war die ideale Voraussetzung für das Orgien Mysterien Theater", sagte der 1938 geborene Wiener. Neben dem prominenten Schlosshof werden auch der Glockenstall, die Kastanienallee sowie angrenzende Feldwege bespielt.

In wahrhaftiger Präsenz kann der Lebenskünstler, der die Idee für sein Gesamtkunstwerk bereits 1957 entwickelte, seine Spiele leider nicht mehr erleben. Geist und Fleisch waren für Nitsch eine Einheit: Im hinteren Garten können Teilnehmende sein Grab besuchen, Steine, Stöcke, eine Pfauenfeder und auch eine Mannerschnitte wurden darauf abgelegt. Sein Geist aber lebt in der Anwesenheit aller Akteure und Teilnehmerinnen weiter. In Prinzendorf ist Nitsch überall: In den Schwalbennestern, den Hollerbüschen, den Kletterrosen, dem alten Ziegelboden und dem vom Regen durchnässten Erdboden.

Dieser vibriert teilweise unter den donnernden und wummernden Musikpassagen, die stellenweise zu ohrenbetäubendem Lärm anwächst. Und dieser wird selbst zur Leinwand, wenn den Gekreuzigten Blut an den Mund gereicht wird und an ihnen herab fließt. Wenn Fleisch in Schweinebäuche gestopft und mit literweise Blut bespritzt wird. Wenn Akteure Tomaten, Weintrauben und Innereien mit ihren Füßen zertreten und danach durch die Luft schleudern. Lungenflügel, Gedärme und Cherrytomaten landen vor einem am Boden.

Im Schlosshof spielen sich die sinnlichen Aktionen ab. Begleitet von Orchestermusik, Glockenläuten, Räucherschalen, Hausmannskost und viel Weißwein.
Foto: HERMANN NITSCH GMBH / FOTO FEYERL

Dionysische Kontrolle

Begleitend wird von einem eigenen Kochteam bodenständige österreichische Hausmannskost gereicht. Viel Fleisch, viel Brot und – nicht zu vergessen – viel Wein. Insgesamt stehen am Wochenende 6000 Liter davon zur Verfügung. Das Ritual der Existenzverherrlichung wird hier bis zum Exzess gefeiert, der Rausch und das Dionysische sind bedeutende Aspekte in Nitschs Werk. Wobei es, wie oft fälschlich angenommen, um kein Massenbesäufnis geht. Für die erste und bis jetzt einzige tatsächlich sechstägige Fassung des 6-Tage-Spiel von 1998 bat Nitsch die Teilnehmenden vorab, sich auch bei "exzessivem Trinken" zu beherrschen und nicht die Kontrolle über sich zu verlieren. Prost!

Auch, wenn nicht immer klar aus den einzelnen Aktionen ablesbar ist, welche Motive gerade gemeint sind, wurden diese akribisch und detailgetreu in der Partitur festgehalten. Das "mythische Leitmotiv" baut sich aus diversen Komponenten auf, einige davon sind: Orgasmus, Qual/Wollust, Ausweidung oder Tötung. Neben all der Mystik, dem Spirituellen und mythologischen Gestalten wie Ödipus oder Adonis steht das Religiöse, besonders die katholische Liturgie und Symbolik, im Zentrum. Immer wieder werden Akteurinnen – nackt oder in weißen Gewändern – auf Holzkreuze gebunden, Monstranzen andächtig getragen und Prozessionen geführt. Liebe ist das fundamentale Motiv.

24 Jahre nach der ersten Fassung des 6-Tage-Spiels 1998 findet bis Montagmorgen die Neufassung statt.
Foto: TOPPRESS Austria

Die Zeiten haben sich geändert

Nitsch verstand es, den sakralen mit dem profanen (und ursprünglichen) Ritus zu verbinden: Die große Prozession am ersten Tag führt über einen Feldweg und zu einem Weinkeller im Ort, eine Akteurin wird auf der großen Stiertrage samt Blumenarrangements von mindestens 40 Personen gestemmt. Dazu spielt eine typische Blaskapelle leichte Stücke. Die anfängliche Ernsthaftigkeit ebbt im Laufe des Geschehens immer weiter ab, zwischen den Aktionen erinnert die Szenerie an ein ausgelassenes Dorffest.

Kaum zu glauben, dass es bei der ersten Fassung vor 24 Jahren noch zu Protesten vor dem Schloss kam. Nitsch als Gotteslästerer und Tierquäler (das Fleisch und Blut stammt 2022 übrigens von zur Schlachtung bestimmten Schweinen), lauteten die skandalisierten Vorwürfe auch damals noch, die schon in den 1970ern gegen den Wiener Aktionisten hochgekocht waren. Ab den 1980er-Jahren stilisierte Nitsch sich dann mit Ausstellungen und Teilnahmen zum gefeierten Staatskünstler. Proteste gibt es heute keine mehr, die Zeiten haben sich geändert. In den nächsten Jahren sollen die weiteren vier Tage zur Aufführung kommen.

Das finale Werk des Zeremonienmeisters lockt neben dem lokalen Kunstpublikum, alten Freunden und Bekannten aus der Umgebung, zahlreiche junge Fans an, viele sind sogar extra aus dem Ausland angereist. Für sie sind Nitsch, sein Werk und künstlerisches Erbe von unvergleichlich großer Bedeutung. Für manche ist diese 160. Aktion eine zutiefst spirituelle und sinnerberauschende Erfahrung – für andere das Fest ihres Lebens. (Katharina Rustler, 31.7.2022)