Normalerweise ist er der Jäger, doch immer häufiger wird er zum Gejagten: der Weiße Hai.

Foto: imago images/McPHOTO

Der Beginn der Videoaufnahme ist trügerisch. Im türkisblauen Wasser scheinen zwei Orcas ruhig miteinander an der Oberfläche zu schwimmen. Als die Drohnenkamera in die Szenerie hineinzoomt, lässt sich erahnen, dass hier etwas ganz anders im Gange ist. Denn plötzlich tauchen aus dem Untergrund riesige Luftblasen auf – eine Technik, die die sogenannten Killerwale, aber auch Delfine beim Jagen verwenden, um ihre Opfer zu desorientieren.

Video zeigt Haiangriff durch Orcas

Wenige Sekunden später ist klar, was die Beute der kraftvollen Jäger ist: Im milchig-trüben Wasser taucht ein Weißer Hai nahe der Oberfläche auf, dem an der Seite von einem weiteren Schwertwal eine stark blutende Wunde zugefügt wurde. Ob der Hai nach diesem Angriff überhaupt noch lebt, ist durch die Bewegungen der Tiere schwer auszumachen. Nach einigen Sekunden nahe der Oberfläche zieht der Orca den Hai in die Tiefe. Einige Momente später sieht man, wie die Jäger den Schauplatz offenbar wieder verlassen.

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Aufgenommen wurde der Angriff auf den Hai nahe der Küstenstadt Mossel Bay in der südafrikanischen Provinz Westkap, östlich des Kaps der Guten Hoffnung. Dass die vom Menschen besonders gefürchteten Raubtiere selbst zur Beute werden können, war bereits bekannt. So konnte wiederholt beobachtet werden, wie Weiße Haie das Weite suchen, wenn sie auf eine Gruppe von Schwertwalen treffen.

In den vergangenen Jahren häuften sich allerdings Funde von Haikadavern, die auf steigende Attacken durch die Wale vor der Küste Südafrikas hindeuten. Allein in den vergangenen fünf Jahren seien acht tote Weiße Haie nach Orca-Angriffen an die Küste gespült worden, berichtete zuletzt die Meeresbiologin Alison Towner von der südafrikanischen Rhodes University in Makhanda im "African Journal of Marine Science".

Leber und Herz fehlen

Die Funde der toten Tiere haben die Forschenden aus mehreren Gründen verblüfft. Abgesehen davon, dass selbst ein stattlicher Weißer Hai, der es im Schnitt auf über sechs Meter Länge bringt, gegen eine Gruppe von Orcas schlechte Karten hat, fiel auf, dass den getöteten Tieren meist nur die Leber, seltener auch das Herz fehlte. Während diese nahrhaften Organe mit nahezu chirurgischer Präzision aus dem Haikörper entfernt wurden, blieb der Rest des Tiers fast unangetastet.

Schwertwale sind mit durchschnittlich über neun Meter Länge und 9.000 Kilogramm Gewicht deutlich größer und schwerer als ein Weißer Hai (sechs Meter, 2.300 Kilogramm). Sie jagen zudem in Gruppen.
Foto: imago images/Nature Picture Libr

Auch auf der Drohnenaufnahme könnte genau dieses Verhalten zu sehen sein. Denn der Orca beißt gezielt an der Seite in den Haikörper, um wenige Momente später mit seinen Artgenossen wieder wegzuschwimmen. Um Haie außer Gefecht zu setzen, rammen Schwertwale diese seitlich in die Bauchregion und können sie so auf den Rücken drehen. Dadurch kann die für Haie charakteristische Schockstarre ausgelöst werden. Die Tiere werden bewegungsunfähig und können nach einiger Zeit sogar ertrinken.

Weniger Weiße Haie

Das spezialisierte Jagdverhalten von Schwertwalen an der südafrikanischen Küste könnte dafür verantwortlich sein, dass sich immer weniger Haie dort zeigen. Allein in einer beobachteten Bucht vor der Stadt Gansbaai in der Provinz Westkap seien 14 Weiße Haie abgewandert – wohl um einem ähnlichen Schicksal zu entgehen. Nach beobachten Angriffen würden sie oft monatelang nicht in die Region zurückkehren, erklärt Meeresbiologin Towner.

Warum Orcas in Südafrika, aber auch in Kalifornien gezielt Jagd auf Weiße Haie machen, ist unklar. Wissenschafter fürchten, dass die steigenden Angriffe auf sinkende Populationen anderer Beutetiere zurückzuführen sind. Neben der Überfischung macht die Verschmutzung, aber auch die Erwärmung der Meere vielen Arten zu schaffen. Für die ohnehin geringen Bestände des Weißen Hais, der durch den Menschen an den Rand der Ausrottung gebracht wurde, kommt wohl eine weitere Bedrohung hinzu. (Martin Stepanek, 1.8.2022)