Giuseppe Conte von der Fünf-Sterne-Bewegung war einer der wenigen prominenten Politiker, der sich entsetzt über den Voyeurismus der Passanten zeigte.

Foto: Alberto Pizzoli/Pool via AP

Die Tat ereignete sich am vergangenen Freitag, kurz nach 14 Uhr, in Civitanova Marche, einem Badeort an der Adria rund 25 Kilometer südlich von Ancona. Und sie passierte auf dem Corso Umberto I, der zentralen und belebten Einkaufsstraße der Kleinstadt. Ein 39-jähriger Straßenhändler aus Nigeria hatte der Freundin eines 32-jährigen Italieners Taschentücher und Feuerzeuge zum Kauf angeboten.

Während die Frau in einen Kleiderladen ging, stürzte sich der kräftig gebaute Täter auf den Schwarzen mit einer Gehbehinderung, entriss ihm seine Krücke und schlug damit auf ihn ein, bis er zu Boden ging. Dann kniete er sich dem sich verzweifelt wehrenden Opfer auf die Brust, schlug ihm mit den Fäusten ins Gesicht und würgte ihn. Als sich sein Opfer nicht mehr bewegte, nahm er ihm noch sein Handy ab und ging seelenruhig davon.

Das brutale Tötungsdelikt ist als solches schon schockierend genug. Doch beinahe noch verstörender ist die Reaktion der Passanten, die den Mord aus nächster Nähe beobachtet haben: Vier endlose Minuten dauerte die Aggression, aber niemand schritt ein, niemand half dem Opfer. Stattdessen haben mehrere Personen das Geschehen mit ihrer Handykamera festgehalten.

Hilfe kam zu spät

Ein Mann rief dem Täter zu: "Auf diese Weise bringst du ihn um!" Er benachrichtigte auch Polizei und Rettung, die nach kurzer Zeit eintrafen. Für den Vater einer achtjährigen Tochter kam die Hilfe zu spät: Er war schon tot, laut den Behörden wahrscheinlich erstickt oder stranguliert. Sein Leichnam wurde mit einer Plane zugedeckt und blieb noch mehrere Stunden am Tatort liegen. Der Täter ließ sich widerstandslos festnehmen.

In Italien, wo nach dem Sturz von Regierungschef Mario Draghi der Wahlkampf begonnen hat und insbesondere beim Thema Migration die Töne rauer werden, hat die Tat von Civitanova unweigerlich zu einer Polemik über die Motive des Täters geführt. Für den Polizeichef von Macerata war es ein banaler Streit wegen einer wohl etwas zu aufdringlichen Bettelei, die den Täter zu seiner "abnormen Reaktion" getrieben habe. Mit Rassismus habe die Tat jedenfalls nichts zu tun. Der Anwalt der Familie des Opfers sagte hingegen: "Ich frage mich, ob das Gleiche passiert wäre, wenn es der Täter mit einem Italiener oder einem Amerikaner zu tun gehabt hätte." Ob er in diesem Fall das Opfer wegen des "banalen Streits" auch gleich getötet hätte.

Seitens der Politik ist die Ermordung des Straßenhändlers einhellig verurteilt worden. "Was in unserer Stadt passiert ist, ist eine beispiellose Gewalttat, die uns geschockt hat", sagte der Bürgermeister von Civitanova Marche, Fabrizio Ciarapica, der einem Mitte-rechts-Gemeinderat vorsteht.

Verurteilung auch von rechts

Mehr als einen Tag dauerte es, bis Lega-Chef Salvini sich zu Wort meldete: "So darf man nicht sterben. Ein Gebet für das Opfer und seine Familie. Für den Mörder die verdiente Strafe bis zum Ende", twitterte Salvini. Die Chefin der postfaschistischen Fratelli, Giorgia Meloni, verurteilte die Tat ebenfalls, bezeichnete allerdings einen TV-Journalisten, der eine etwas raschere Distanzierung erwartet hätte, als "Schakal". Meloni gilt als derzeit aussichtsreichste Kandidatin für die Nachfolge von Mario Draghi an der Regierungsspitze.

Im Wahlkampfgetöse fast untergegangen ist die Untätigkeit der Passanten, die der Anwalt der Familie des Opfers als "schaudererregend" bezeichnete. "Man muss sich schon fragen, woher diese schamlose Gleichgültigkeit herkommt: Es scheint, als gebe es in unserer Gesellschaft keinen Bürgersinn, kein Mitgefühl, keine Solidarität mehr."

Und natürlich müsste man sich fragen, warum die Politik bei diesem kollektiven Wegschauen ebenfalls wegschaut. Einer der wenigen prominenten Politiker, der sich entsetzt über den gleichgültigen Voyeurismus der Passanten zeigte, war der frühere Regierungschef und heutige Führer der Fünf-Sterne-Protestbewegung, Giuseppe Conte. "Was für eine Gesellschaft wollen wir den Jungen eigentlich hinterlassen?", fragte der Ex-Premier. (Dominik Straub aus Rom, 31.7.2022)