Zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage besetzten am Samstag Anhänger des einflussreichen schiitischen Geistlichen Muqtada al-Sadr (Plakat) das Parlamentsgebäude in der Hauptstadt Bagdad.

Foto: AFP / Sabah Arar

Muqtada al-Sadr, der Sieger der letzten Wahlen im Irak, hat seine Abgeordneten aus dem Parlament zurückgezogen – und die Politik auf die Straße verlegt. Wieder einmal. Nicht das erste Mal haben seine Anhänger die ehemalige Internationale Zone (IZ) in Bagdad und dort das Abgeordnetenhaus gestürmt. Aber die Angst vor einem neuen Bürgerkrieg, diesmal innerschiitisch, war im Irak lange nicht mehr so groß wie derzeit.

Anlass für den Sturm am Samstag – der zweite innerhalb weniger Tage – war eine vom schiitischen Parlamentsblock mit dem sperrigen Namen "Koordinationsrahmen" einberufene Parlamentssitzung: Er ist nach dem Rückzug von Sadrs 73 Abgeordneten der stärkste Block und will mit seinen Verbündeten eine Regierung bilden – woran Sadr zuvor gescheitert war.

Zuerst muss das Parlament einen Staatspräsidenten wählen, der den vom stärksten Block nominierten Premierskandidaten designiert. An der vom Koordinationsrahmen erwählten Person von Mohammed Shia al-Sudani, einem früheren Arbeitsminister, entzündet sich die Wut der Sadristen. Denn er gilt als Frontmann für Sadrs größten innerschiitischen Feind, den früheren Premier Nuri al-Maliki (2006–2014).

Bis zu 50 Grad

Nach dem Vordringen der Sadristen wurde die Parlamentssitzung am Samstag abgebrochen. Von Ma liki kursierten Bilder, wie er in seinem Haus mit dem Gewehr in der Hand die zum Teil gewalttätigen Demonstranten erwartete. In der IZ, wo sich Ämter und Behörden befinden, kam es zu schweren Auseinandersetzungen, 125 Verletzte wurden gemeldet, es dürften mehr sein. Die Temperaturen erreichen in Bagdad in diesen Tagen bis zu 50 Grad. Die Sicherheitskräfte setzten zuerst Wasserwerfer ein, bis ihnen klar wurde, dass sie damit den Demonstranten Erleichterung verschafften.

Nicht nur Sadr, der bereits die Wahlen 2018 gewonnen hatte, sondern auch Maliki schnitt bei den Parlamentswahlen im Oktober 2021 gut ab. Seine "Rechtsstaatspartei" ist nach dem Rückzug Sadrs mit 38 Abgeordneten, allerdings in einem Parlament mit 329 Sitzen, nunmehr die größte schiitische Einzelliste. Seine sunnitenfeindliche Politik wurde von vielen für den Aufstieg des "Islamischen Staats" (IS) im Irak verantwortlich gemacht – weswegen er 2014, nachdem der IS Mossul erobert hatte, gehen musste. Er selbst kommt als Premier heute nicht mehr infrage, nachdem vor kurzem kompromittierende Tonaufnahmen aufgetaucht sind, in denen er über Freund und Feind herzieht.

Sadr hatte nach den Wahlen gemeinsam mit der stärksten Sunnitengruppe von Parlamentspräsident Mohammed al-Halbousi und der in der kurdischen Autonomieregion dominierenden Kurdischen Demokratischen Partei (KDP) einen Block gebildet und strebte eine Regierung der "Nationalen Mehrheit" an. Allerdings scheiterte sein Block bereits bei der Wahl des Staatspräsidenten.

Über diese Frage sind die KDP der Familie Barzani und die Patriotische Union Kurdistans (PUK) der Familie Talabani, die seit 2005 den irakischen Präsidenten stellt, schwer zerstritten. Nunmehr vermittelt die Uno, auch der Koordinationsrahmen rief die Kurden auf, sich zusammenzuraufen.

Angesichts der Gewalt drückten die USA, die weiter eine militärische Präsenz im Irak haben, ihre Sorge aus. Aus dem Iran ist Esmail Ghaani, Nachfolger des von den USA 2020 getöteten Al-Quds-Kommandanten Qassem Soleimani, angereist. Teheran hat bereits früher im Zwist zwischen Sadr und Maliki vermittelt, etwa bei der Regierungsbildung 2010. In Ma likis Aufnahmen fanden sich jedoch auch Hinweise auf eine Spaltung der Iraner in der Frage der irakischen Politik.

Irans Klienten

Die irakische schiitische Gruppe, die dem Iran am nächsten steht, ist der politische Arm der Iran-affiliierten schiitischen Milizen, die Fatah, die jedoch bei den Wahlen 2021 nicht so stark wie 2018 abschnitt. Im Koordinationsrahmen ist sie nach Maliki aber die stärkste Kraft.

Der US-feindliche Sadr versucht sich als irakischer Nationalist, was dem Iran nicht gefallen kann. Aber auch Maliki war als Premier nicht einfach eine Marionette des Iran. Premier wurde nach dem Sturz Saddam Husseins 2003 durch die US-Invasion beziehungsweise den Wahlen 2005 immer ein Kandidat, mit dem sowohl Teheran als auch Washington leben konnte. Je schlechter die US-iranischen Beziehungen sind, desto labiler ist die Lage im Irak.

Nach 2003 stilisierten die USA die Schiiten anfangs pauschal als Saddam-Gegner und somit als "gut". Der nach dem Sturz des Diktators aus dem Untergrund aufgetauchte 27-jährige Spross und einzige bedeutende Überlebende der Klerikerfamilie Sadr, Muqtada al-Sadr, belehrte sie schnell eines Besseren. Er sammelte die verelendeten schiitischen Massen hinter sich, die er auch 19 Jahre später noch mobilisieren kann. Die irakischen Schiiten waren immer durch starke Klassenunterschiede getrennt: da die reichen Grundbesitzer und Händler, dort eine arme Schicht, die aber auch viele Intellektuelle und Aktivisten produzierte, früher Kommunisten, später Islamisten. (Gudrun Harrer, 31.7.2022)

BBC News