Ab Mitte des 20. Jahrhunderts habe die Ausbeutung der Natur massiv zugenommen, sagt Kehnel. Dazu gehört auch die Rodung des Regenwalds in Brasilien.

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Über Jahrhunderte hinweg war Nachhaltigkeit selbstverständlich – auch weil sie Teil der Überlebensstrategie war. Kleidung wurde repariert, der Konsum bewusst beschränkt, Seen und Ozeane wurden gemeinschaftlich genutzt. Früher sei zwar längst nicht alles besser gewesen, doch gerade aus dem Mittelalter können wir viel lernen und damit vielleicht die Zerstörung unseres Planeten abwenden, sagt die Historikerin Annette Kehnel, die im Vorjahr das Buch "Wir konnten auch anders" veröffentlichte. Im Interview spricht sie darüber, warum unser Verständnis von Abfall noch relativ jung ist, welche Bedeutung Religion für die Nachhaltigkeit hat und was unsere Vorfahren wohl über unsere heutige Zeit denken würden.

STANDARD: Frau Kehnel, Sie haben kürzlich in einem Vortrag gesagt, unserer Zeit sei geprägt von einem "Vor uns die Steinzeit und nach mir die Sintflut"-Denken. Was meinen Sie damit?

Kehnel: Wir denken immer, dass die Leute, die vor uns gelebt haben, in total unmenschlichen, hinterwäldlerischen oder absolut unmodernen und unattraktiven Lebensformen gelebt hätten. Dabei vergessen wir, wie viel Vorerfahrung und Wissen diese Menschen mit der Bewältigung von Krisen hatten. Gleichzeitig ist uns oftmals egal, was nach uns passiert. Diese Kurzfristigkeit unseres Denkens ist ein Problem, das ich als Historikerin ein bisschen zurechtrücken will.

STANDARD: In Ihrem Buch "Wir konnten auch anders" schreiben Sie, dass wir viel vom Mittelalter über Nachhaltigkeit lernen können. Inwiefern? Vielen gilt die Zeit ja als eher düster und rückständig.

Kehnel: Es ist einer der großen Mythen, dass das Mittelalter finster, dreckig und abergläubisch war. Diese ganzen Missstände, die da in unseren Köpfen präsent sind, stammen eigentlich aus dem 19. Jahrhundert und waren Ergebnisse des ersten Höhepunkts der Moderne und der Industrialisierung. Im Mittelalter war der Umgang mit der Natur wesentlich direkter, weil die Menschen wussten, dass sie von der Natur abhängig sind. Das haben wir heute verlernt. Wir sind mit dem Lebensgefühl groß geworden, dass wir die Natur immer im Griff haben. Das beginnt bei den Schnecken im Garten und geht bei der Atomkraft und der Raumfahrt weiter. Diese Vorstellung hat uns leider in ein großes Dilemma gebracht. Denn langfristig sitzt die Natur am längeren Hebel. Falls es uns nicht gelingt, jetzt Überlebensstrategien für den Homo sapiens zu finden, dann wird es die Natur und den Planeten weiterhin geben – nur uns Menschen vielleicht nicht mehr. Im Mittelalter war dieses Bewusstsein einer wechselhaften, einvernehmlichen Beziehung mit der Natur präsenter. Man wusste, man kann die Natur nicht ungestraft langfristig überstrapazieren.

STANDARD: Was hat Nachhaltigkeit für die Menschen damals bedeutet? Den Begriff hat es zu dieser Zeit ja noch nicht einmal gegeben.

Kehnel: Der Begriff der Nachhaltigkeit wurde tatsächlich erst im 18. Jahrhundert beziehungsweise erst mit der Moderne und den Versuchen der Effizienzsteigerung erfunden. Im Mittelalter war Nachhaltigkeit kein "nice to have". Nachhaltigkeit war eine Überlebensstrategie. Es war im ureigensten Interesse eines Fischers am Bodensee, dass der See so befischt wird, dass seine Kinder und Enkel dann auch noch was zu fischen haben. Letztlich ist das ein Interesse, was wir alle haben. Nur haben wir das irgendwie verdrängt, weil wir davon ausgegangen sind, dass es der technische Fortschritt schon für uns klären wird. Ich habe ein großes Vertrauen in die Technologie und bin sicher, wenn wir wirklich alle unsere Fähigkeiten und unsere Energie reinstecken, wäre es in der Tat eine sehr große Chance, dass wir den Klimawandel unter zwei Grad halten können. Aber wenn wir weiterhin unsere Energie in die Weiterentwicklung des Verbrennungsmotors und von teuren und immer größeren Autos statt in alternative Energien stecken, dann sehe ich es problematisch.

Annette Kehnel ist Historikerin und seit 2005 Inhaberin des Lehrstuhls für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Mannheim. Derzeit ist sie als Gastprofessorin in Cambridge tätig.
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STANDARD: Viele würden jetzt sagen: Die Leute mögen damals vielleicht weniger Ressourcen verbraucht haben, aber dafür waren sie ja auch um ein Vielfaches ärmer.

Kehnel: Ja, sie hatten keine Handys, weniger Kleider, weniger Möbel, weniger Komfort. Von dem her waren sie ärmer. Wie viele Dinge besitzt ein Mensch im Westen heute im Durchschnitt? Ich habe mal was gehört von 7.000 Dingen, was mir sehr wenig vorkommt. Im Mittelalter besaß selbst ein König keine 7.000 Gegenstände. Gleichzeitig kann man aber auch sagen, dass diese Fülle, mit der wir uns umgeben, total belastend ist. Gerade junge Menschen finden heute ein Leben mit "Weniger ist mehr" ganz befreiend. Ich kann jetzt nicht behaupten, dass die Menschen im Mittelalter diese Freiheit so gesucht oder genossen haben. Aber ich würde infrage stellen, ob sie darunter gelitten haben. Das Leben war eben anders. Aber war es deswegen deprimiert, viel ärmer und weniger lebenswert? Die Lebensarbeitszeit ist ein schönes Beispiel: Wir denken immer alle, die haben den ganzen Tag nur geschuftet, saßen dann abends ohne Licht und ohne Fernseher, Kultur und Theater in ihren dunklen Höhlen, haben sich von Flöhen beißen lassen und mussten dann morgens wieder schuften. Dabei gibt es Erhebungen von öffentlichen Baustellen im Mittelalter, anhand derer man sehen kann, dass die Menschen damals wahrscheinlich eine 37-Stunden-Woche hatten. Erst im 18. und 19. Jahrhundert kamen dann Wochenarbeitszeiten von bis zu 50 Stunden.

STANDARD: In Ihrem Buch schreiben Sie auch, dass Recycling damals eine große Rolle gespielt hat. Inwiefern?

Kehnel: Recycling war der Goldstandard des Wirtschaftens. Unsere Vorfahren haben die Ressourcen viel intelligenter genutzt. Einerseits war das natürlich eine Überlebensstrategie. Andererseits gab es aber auch die Freude an der Wieder- und Weiterverwertung und dem Erneuern des Alten. Unsere heutige Sucht nach immer Neuem und die damit verbundene, wirklich oft hirnlose Verschleuderung von Ressourcen ist ziemlich bemerkenswert. Wir haben es geschafft, innerhalb von nur einem Jahrhundert den Planeten total zu vermüllen. Das hat noch keine Generation vor uns geschafft. Auf diese Fähigkeit brauchen wir wirklich nicht stolz zu sein.

STANDARD: Sind wir heute verschwenderisch, weil wir es uns eben "leisten" können? Wo beispielsweise durch meinen Konsum Müll anfällt, hat für mich als Einzelner oft kaum negative Auswirkungen.

Kehnel: Wir haben die Chance oder das zwiespältige Privileg, dass wir den Müll nach Indonesien transportieren und ihn dort ins Meer kippen können. Wir können die Folgeprobleme von uns wegschieben. Wir haben in der Nachkriegszeit, also in Zeiten des Wirtschaftswunders, diese ganzen Praktiken der Wiederverwertung verlernt. Weil die Märkte mit billigem Öl überschwemmt wurden und Plastik und andere Produkte, die mit dieser Energie produziert wurden, nichts mehr wert waren. Wir haben Schinken in Plastik eingepackt und ihn vier Wochen oder vier Monate in irgendwelchen Regalen vergammeln lassen. Das hätte man früher nicht gemacht, für den Genuss eines Produkts Verpackungen zu produzieren, die tausende Jahre den Planeten belasten. Das ist schon sehr gedankenlos.

STANDARD: Der Begriff "Abfall" tauchte in seiner heutigen Bedeutung erst im 20. Jahrhundert in den Wörterbüchern auf, schreiben Sie. Weil es davor keinen Abfall gab?

Kehnel: Es gab natürlich schon immer Abfall. Mittelalterliche Abfallgruben gibt es zuhauf, und da findet man alles Mögliche, von kaputtem Geschirr, altem Schmuck bis hin zu Essensresten. Interessant ist, dass Abfall im Sinne von "nichtwiederverwertbarem Rest" in den Wörterbüchern des 18. Jahrhunderts gar nicht auftaucht. Da wird Abfall immer im Zusammenhang mit etwas, was wiederzuverwerten ist, definiert. Und erst Mitte des 20. Jahrhunderts wird dann dieser nichtwiederverwertbare Rest, der entweder in Privathaushalten oder bei der Produktion anfällt, mitaufgenommen. Dabei hat das meiste von dem, was wir heute Abfall nennen, einen Wert, auf den wir als Gesellschaft nicht verzichten sollten.

STANDARD: Wichtig war auch, wie sich Menschen damals die sogenannten Commons teilten – also Ressourcen, die allen gehören und von allen genutzt werden, wie etwa Ozeane, Seen oder Wälder. Wie gelang das?

Kehnel: Ein gutes Beispiel aus dem Mittelalter ist der Bodensee. Der See war schon immer ein internationales Gewässer und nie privatisiert, mit Österreich, der Schweiz und Deutschland als Anrainer. Die Bodensee-Fischer haben sich einmal im Jahr auf den sogenannten Fischertagen getroffen und gemeinsam die Regeln des Fischens für das nächste Jahr vereinbart. Wenn es weniger Fische gab, haben sie die Maschengröße erweitert, damit weniger Fische ins Netz gingen und die Fische laichen konnten. Sie haben auf kurzfristige Erträge zugunsten zukünftiger Erträge verzichtet. Diese Regel wurde in den sogenannten Fischerei-Ordnungen festgehalten, und da mussten sich alle daran halten. Jene, die es nicht taten, mussten mit Sanktionen, Strafgeld und – wenn es ganz schlimm kam – mit einem Ausschluss aus der Fischergemeinschaft rechnen. Aus dieser Geschichte könne wir auch etwas für die heutige Zeit lernen. Nicht in dem Sinne, dass man jetzt alles wieder nachmacht, sondern dass man sich Ideen, aber auch Mut holt und sagt: "Okay, das könnten wir in der heutigen Zeit vielleicht in dem und dem Bereich zumindest wagen oder weiterführen."

Vor zwei Jahren demonstrierten Fischer gegen geplante Aquakulturen im Bodensee. In der Vergangenheit habe man Streitigkeiten um die Nutzung des Sees durch gemeinsame Regeln gelöst, sagt Kehnel.
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STANDARD: Statt kleiner Gemeinschaften leben heute aber auch wesentlich mehr Menschen auf diesem Planeten. Lassen sich solche Konzepte angesichts der derzeitigen Bevölkerungszahl und globalen Vernetzung überhaupt noch umsetzen?

Kehnel: Das ist die große Frage. Damals waren es lokale Gemeinschaften, die zusammenhingen. Heute haben wir eine globalisierte Welt, in der der Flügelschlag eines Schmetterlings in Wien oder hier in Cambridge möglicherweise Auswirkungen auf der ganzen Welt hat, von denen wir gar nichts wissen können. Ich denke, wir haben einfach keine andere Wahl, als dass wir versuchen, das zu probieren, was in unseren Handlungsspielräumen möglich ist. Ansätze für eine Gemeinwohlwirtschaft, wie sie in Österreich ja weit vorangetrieben werden, machen Mut. Man merkt, dass die Menschen auch Nachhaltigkeit wollen. Die ganze Debatte dreht sich ganz oft um Verzicht und wie viel wir bereit sind hinzunehmen für weniger Lebensqualität. Dabei ist genau das Gegenteil der Fall: Menschen, die sich in Gemeinwohlwirtschaftsprojekten organisieren, merken, dass sie in Sachen Lebenszeit, Beziehungen und Sinnstiftung ganz viel gewinnen.

STANDARD: Viele Konzepte, die wir heute kennen, wie etwa Sharing Economy, Secondhand, Urban Gardening, Minimalismus, veganer Lifestyle, Crowdfunding oder Mikrokredite habe es Ihrer Ansicht nach damals schon gegeben. Was hatte es etwa mit dem Minimalismus von damals auf sich?

Kehnel: Mich hat selbst überrascht, dass es diesen Ruf nach "Weniger ist mehr" bereits mindestens seit der Antike gibt. Diogenes von Sinope war einer der frühesten oder lautesten Vertreter, der im Fass lebte, auf dem Marktplatz von Athen predigte und in seiner Bedürfnislosigkeit die höchste Form der Freiheit sah. Oder Franz von Assisi, der sagte, nichts besitzen zu müssen sei die größte Form der Freiheit, und der mit den Tieren, den Bäumen und der Natur im Gespräch sein wollte. Das ist etwas, das uns bis heute sehr fasziniert.

STANDARD: Eine große Rolle bei der Nachhaltigkeit spielte Ihrer Ansicht nach auch die Religion, etwa wenn es um den Umgang mit zukünftigen Generation ging. Inwiefern?

Kehnel: Religiöse Systeme wurden von Gesellschaften entwickelt, um das Miteinander auch generationenübergreifend zu regeln. Ein Beispiel ist die Erfindung des Fegefeuers. Die Idee ist die: Ich kann nach meinem Tod im Fegefeuer für Sünden büßen, aber meine Kinder und Enkel können mich davon freikaufen, wenn sie Ablassbriefe kaufen. Wenn ich also weiß, dass ich gewissermaßen nach dem Tod von meinen Kindern oder Enkeln abhängig bin, dann verhalte ich mich zu Lebzeiten so, dass sie mich in guter Erinnerung behalten. Für Jair Bolsonaro in Brasilien etwa würde kein junger Brasilianer je einen Ablassbriefe kaufen, weil er durch die Abholzung der Regenwälder die Lebensgrundlage von uns allen zerstört.

Das Fegefeuer war eine coole Idee. Die Frage ist: Schaffen wir es künftig auch ohne Fegefeuer? Immerhin haben wir uns heute aus gutem Grund aus den Fesseln der Religion befreit. Aber wir müssen jetzt neue kulturelle Umgangsformen, Handlungsmuster oder Praktiken entdecken oder erfinden, die dafür sorgen, dass wir uns so verhalten, dass auch die Menschen, die nach uns kommen, eine gesunde Welt haben. Manche behaupten sogar, wir bräuchten neue Religionen. Ich bin mir da nicht so sicher. Vielleicht ist es auch ein Missverständnis: Dass das, was wir Religion genannt haben, lange Zeit vielleicht nur eine Form der kulturellen Regelung war, die das Bewusstsein dafür schult, dass es außer uns Menschen vielleicht noch etwas Größeres und Wichtigeres gibt. Und dieses Bewusstsein haben wir heute ein bisschen verloren. Wir haben uns Menschen zu Göttern gemacht.

STANDARD: Auch im Mittelalter zerstörten Menschen die Natur – etwa im Zuge der großen Waldrodungen zwischen dem 8. und 12. Jahrhundert. Existierten Naturschutz und Plünderung nicht immer schon nebeneinander?

Kehnel: Wir können beides: Die Natur plündern und nachhaltig mit ihr umgehen. Das Problem ist, dass diese Ausbeutung der Ressourcen, die unsere Vorfahren ja auch unternommen haben, ganz oft als implizite Begründung dafür herhalten musste, dass wir als Menschen gar nicht anders können, als Wälder abzuholzen, Ökosysteme zu zerstören und große Säuger auszurotten. Wir haben dabei ganz vergessen, dass wir auch mit der Natur leben können. Es sind vor allem Krisensituationen, Kriege, Kolonialisierung, Expansions- und Machtbestrebungen, die für die Höhepunkte der Ausbeutung von Mensch und Natur sorgen.

STANDARD: Noch ein Gedankenexperiment, das Sie auch in Ihrem Buch wagen: Was würden unsere Vorfahren empfinden, wenn es sie per Zeitreise plötzlich in die Gegenwart verschlüge?

Kehnel: Sie würden sich sicherlich wundern über all den Komfort, den wir erreicht haben. Sie würden staunen, dass wir heute Menschen ins All schicken, aber auch über unsere gemütlichen Wohnzimmer, unsere tollen Badewannen und die Möglichkeit, jetzt von Cambridge nach Wien Gespräche zu führen. Gleichzeitig würden sie sich über die Resignation, die herrscht, wundern. Sie würden sagen: "Wenn ihr alles erreicht habt, warum seid ihr jetzt so resigniert? Warum nutzt ihr nicht all die Technologie und Mittel und setzt alles daran, diesen Planeten menschenfreundlich zu halten? Warum tut ihr euch so schwer mit Veränderungen? Macht es doch einfach anders, wenn es so nicht mehr geht. Wo ist das Problem?" Ich glaube, die Menschen von damals würden uns wieder Mut machen. (Jakob Pallinger, 4.8.2022)