Würde man ein Wikingerschiff umdrehen, auf 65 Meter Höhe hieven und es auf das Wiener Rathaus setzen, wäre das Zeitverschwendung. Weil es dort so aussieht, als hätte das schon jemand getan. Stefan Novotny steht in der großen, leeren Halle, die direkt über dem Festsaal angebracht ist. Er grinst, wenn man ihn mit dieser Analogie konfrontiert. "Ganz falsch ist das nicht", sagt Novotny. Zwar habe es nichts mit Schiffen zu tun. Aber bautechnisch könne man sich den Dachstuhl des Rathauses durchaus als "Haus auf einem Haus" vorstellen.

Der Dachstuhl des Wiener Rathauses, 1883 fertiggestellt, ist ein historischer Schatz. Und damit ist er in Wien nicht alleine. In der Hauptstadt lohnt sich für Interessierte nicht nur der Blick nach unten – zu den zahlreichen Kellern und versteckten Bunkern, die unter dem Asphalt warten –, sondern auch nach oben. Denn die Dachstühle sind nicht nur alt und schön, sondern verraten auch eine Menge über die Baugeschichte der Stadt.

Wie ein Wikingerschiff präsentiert sich der Dachstuhl des Wiener Rathauses direkt über dem großen Festsaal.
Foto: Christian Fischer

80 Meter lang und 20 Meter breit ist die Halle, die direkt hinter dem Uhrturm mit dem berühmten Rathausmann liegt. "Die Dachkonstruktion ist damals drübergelegt worden, um dem Haus die richtige Proportion zu geben", sagt Novotny. Richtig genutzt wurde sie nie. Als Fachbereichsleiter Infrastruktur des Rathauses bei der MA 34 ist Novotny so etwas wie der oberste Hausherr, wenn es um das Gebäude selbst geht. Er redet von Stehern und Querstreben, zeigt auf die schlanken Stahlträger, die über seinem Kopf zusammenlaufen und ein graues Skelett bilden, auf dem die Verschalung und die Sparren aus Holz liegen. Außen historische Bauformen, innen Moderne, wie für den Historismus an der Ringstraße üblich. "Der Architekt Friedrich von Schmidt hat immer, auch wenn er historistisch gebaut hat, neue Technologien in Anwendung gebracht", sagt Novotny. "Das ist eine sehr leichte Konstruktion, die seit knapp 140 Jahren dem Wetter trotzt."

Eine eigene Welt

Vom Dach des Rathauses im Singular zu sprechen ist genau genommen falsch. Es ist eine verworrene Welt aus Korridoren, kleinen Räumen und mittleren Hallen, die sich unter den Schieferziegeln verbirgt. Folgt man Novotny durch die verwinkelten Gänge, trifft man hinter jeder Ecke auf ein bisschen Geschichte. Mal ist es ein über 100 Jahre altes Sammelbecken für Regenwasser, mal sind es Verstärkungen des Stahlskeletts aus dem Zweiten Weltkrieg. In einem Raum fällt schwaches Licht aus einem Fenster auf eine schmale freistehende Wendeltreppe – als wäre das hier nicht das Wiener Rathaus, sondern Hogwarts.

Der Rundgang beginnt knapp 20 Meter über dem Festsaal und endet ein paar Meter über der Feststiege. Mitten im Raum steht ein Holzverschlag, in dem sich eine große Kurbel versteckt. "Damit kann man die Kristallluster hinunterlassen, wenn man sie reinigen will", sagt Novotny. Jeder von ihnen wiegt knapp 3.200 Kilogramm, weshalb sie an der Stahlkonstruktion des Daches hängen, nicht an der Gewölbedecke darunter. "Die würde das nicht aushalten."

Schatz unterm Dach

Dass unter Wiens Dachziegeln Schätze lagern, wusste man schon immer. Aber welche genau, war lange Zeit unerforscht. Erst 2015 wurde das Bundesdenkmalamt vom Wiener Wohnbauressort und dem Kultusministerium beauftragt, einen Dachkataster anzulegen. Dafür wurden knapp 1.400 Dachstühle im ersten Bezirk untersucht und erfasst. Es ist der einzige flächendeckende Dachkataster einer geschützten Altstadt in Europa. Seitdem weiß man, dass es im historischen Wien neun verschiedene Dachformen und besonders viele Barockdächer gibt. Oder dass die Dachbalken bis etwa 1850 mit Beilen bearbeitet wurden, danach mit Sägen. Als ältester Dachstuhl der Stadt gilt jener der Salvatorkapelle im Alten Rathaus aus dem Jahr 1299. Beim Dachstuhl der Malteserkirche, der aus derselben Zeit stammt, weiß man sogar, dass die Bäume 200 Jahre alt waren, als sie gefällt wurden. Das dort verbaute Holz ist also bis zu 900 Jahre alt.

Der Kataster hat nicht nur wissenschaftlichen Wert. Die Dachetage ist Gold wert, insbesondere innerhalb des Gürtels, wo bautechnisch nur die Wahl zwischen Nachverdichtung und Abriss bleibt. Im ersten Bezirk sind Penthäuser schnell einmal einen Millionenbetrag wert. Dementsprechend sind knapp 70 Prozent der Dächer in der Innenstadt auch bereits ausgebaut. Die Diskussion über Dachausbauten emotionalisiert aber immer wieder, speziell bei älteren Bauten. Das ist ein weiterer Sinn des Dachkatasters – er soll als Diskussionsgrundlage dienen, um zu wissen, welche Dachstühle besonders schützenswert sind.

Unter dem Dach des Wiener Rathauses läuft man durch verwinkelte Gänge und kommt an freistehenden Wendeltreppen vorbei.
Foto: Christian Fischer

Wer aufs Dach von St. Stephan will, erspart sich 215 Stufen. Bis zur Spitze des Südturms sind es 343 Stufen, der Ausstieg zur Dachrinne mit den gotischen Wasserspeiern befindet sich auf Stufe 128. Domführer Bernhard Erlach schafft sie, ohne ins Keuchen zu kommen. Wer das berufsmäßig macht, der ist Stufen gewohnt.

Ziegel im Zickzack

Knapp 230.000 Biberschwanzziegel (so genannt wegen ihrer Form) bilden das farbige Zickzackmuster am Außendach des Doms, in das verschiedene Wappen und Jahreszahlen eingewoben sind. Darunter die Zahl 1950 – das Jahr, aus dem der heutige Dachstuhl stammt. Im Jahr 1945 brannte der Lärchenholzdachstuhl aus dem 15. Jahrhundert vollständig ab. Beim Wiederaufbau wurde er durch ein modernes Stahlskelett ersetzt. Das ist nicht selbstverständlich: Auch wenn viele große Kirchen – neben St. Stephan zum Beispiel der Kölner Dom – mittlerweile eine Stahlkonstruktion unter dem Dach haben, sind auch die meisten Dachstühle noch immer aus Holz. Das Material ist leicht zu bearbeiten, wächst nach und ist flexibel.

Das schwankende Dom-Dach

Beim Dachstuhl des Stephansdoms ist der Stahl aus statischen Gründen verschraubt, nicht geschweißt. "Jede der Dachseiten hat eine Oberfläche, knapp so groß wie ein Fußballfeld", sagt Erlach. Bei heftigem Wind müsse das Dach mitschwanken können, damit es nicht beschädigt wird. Insgesamt wiegt die Konstruktion (ohne Ziegel) knapp 1.200 Tonnen, ungefähr so viel wie der Holzdachstuhl davor. "Das ist aus statischen Gründen praktisch, da sind wir auf der sicheren Seite."

Während die Halle über dem Rathaus überrascht, bietet der Stephansdom unter dem Dach das, was man sich von einem enormen Sakralbau erwarten würde. Das Dach ist 110 Meter lang, fast 38 Meter hoch. Im Raum wurde eine enorme Empore errichtet, die beiden Heidentürme – die kleineren Türme an der Westfassade – ragen bis in den Raum hinein. Die Halle könnte locker als Kirche in der Kirche durchgehen, ist allerdings eine weltliche Lager- und Arbeitsfläche. Maschinen stehen herum, ein Lastenaufzug fährt direkt hinunter zur Kanzel, in einer Ecke lagern Bierbänke. An der Empore sind Grabsteine angebracht, die nach dem Umbau eines alten Kirchenhauses und dem Auflassen der dortigen Gräber keinen Platz mehr hatten.

Die historische Fassade des Rathauses ist von Figuren gesäumt.
Foto: Christian Fischer

Erlach tritt durch eine kleine Tür ins Freie in die Dachrinne. Die ist knapp 80 Zentimeter breit, Löcher im Boden leiten den Regen zu den Wasserspeiern, aus denen er sich auf den Stephansplatz ergießen kann. "Man muss aufpassen, dass die nicht verstopfen", sagt Erlach. Feuchtigkeit ist ohnehin ein Problem für den Dom: An der Nordseite, wo sie sich länger hält, wachsen zwischen den Ziegeln Moose und andere Pflanzen. Sie müssen regelmäßig von Kletterern entfernt werden. Knapp drei Millionen Euro im Jahr kostet es, den Dom zu erhalten, ein Reparaturzirkel dauert circa 40 Jahre. Sprich: In 40 Jahren hat man den Stephansdom einmal komplett saniert und kann wieder von Neuem anfangen.

Der Dachstuhl des Stephansdoms ist übrigens einer der wenigen Schätze in der Dachetage Wiens, die man regulär besichtigen kann. Es gibt immer wieder Führungen, allerdings ist deren Zahl begrenzt. Zu bekannt sollen die Geheimnisse unter Wiens Dächern dann eben auch nicht sein. (Jonas Vogt, 2.8.2022)