Seit Wladimir Putins Truppen Ende Februar in die Ukraine einmarschiert sind, läutet bei der Wiener Beratungsstelle Hauskunft fast durchgehend das Telefon. "Die Anfragen haben sich vervierfacht", sagt Alexandra Bauer von Hauskunft. Die Stelle berät Wienerinnen und Wiener, die ihre Heizung zukunftsfit, klimafreundlich und effizient machen wollen. Bis vor kurzem ließen sich vor allem Eigenheimbesitzer beraten. Doch nun rufen auch viele Mieter und Besitzer von Einzelwohnungen an, die wissen wollen: Wie löse ich mich möglichst schnell vom Gas, das Österreich noch immer vor allem aus Russland bezieht?

Der Gasausstieg, der Bürgerinnen und Bürger nun zunehmend persönlich interessiert, ist auf politischer Ebene schon längst ausgemachte Sache: Bis 2040 sollen in Österreich sämtliche Gasheizungen verschwinden. Bis dahin will auch die Stadt Wien komplett aus Gas ausgestiegen sein.

In hunderttausenden Haushalten heizt eine Gastherme. Doch ihre Tage sind angezählt.
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Das kann man getrost als ambitioniert bezeichnen: 442.000 Haushalte heizen in Wien mit Gas, in der Bundeshauptstadt sind fast die Hälfte aller Gasthermen installiert. Um die Gasfreiheit bis 2040 zu erreichen, müsste die nächsten 18 Jahre durchschnittlich alle 20 Minuten eine Gastherme verschwinden – auch nachts, auch am Wochenende.

Vorzeigeprojekt Geblergasse

Doch wenn es um nachhaltiges Heizen geht, gehen die Bilder oft an der Realität in Wien vorbei. Broschüren, auch solche von offiziellen Stellen, zeigen häufig moderne, gut gedämmte Einfamilienhäuser mit Solarmodulen auf dem Dach und schicker Wärmepumpe im Garten. Doch die große Mehrheit der Wienerinnen und Wiener wohnt in Mehrparteienhäusern, wo sich nicht ohne weiteres graben, stemmen und dämmen lässt.

Dass es trotzdem funktionieren kann, beweist ein Projekt in der Geblergasse in Wien-Hernals, wo ein ganzer Wohnblock zum "Smart Block" umgerüstet wurde. Mehrere gründerzeitliche Häuser teilen sich dort eine gemeinsame Wärmeversorgung mittels eines sogenannten Anergienetzes.

Im Sommer wird Überschusswärme, etwa aus den Wohnungen oder aus Solarkollektoren, in Erdsonden gespeichert, im Winter wird dieses wieder an die Oberfläche gepumpt und durch Wärmepumpen aufbereitet und in die neuen Fußbodenheizungen der Wohnungen geleitet. Im Sommer fließt kaltes Wasser durch die Leitungen, was die Räume kühl hält – gleichzeitig wird die Abwärme im Boden für den Winter gespeichert. Gas braucht hier niemand.

Anergienetze bleiben Ausnahme

Michael Cerveny von der Klima- und Innovationsagentur Wien hat den Smart Block in der Geblergasse dokumentiert. Es sei ohne Zweifel ein Vorzeigeprojekt, doch es werde unter den aktuellen Rahmenbedingungen ein "Minderheitenprogramm" bleiben, wie er dem STANDARD sagt. Schon um das Energiesystem eines einzigen Hauses umzurüsten braucht es das Einverständnis der Eigentümer. Dass das in der Geblergasse gleich mit mehreren Häusern auf einmal funktioniert hat, sei der Hartnäckigkeit der Architekten Angelika und Johannes Zeininger geschuldet, die eine der Liegenschaften selbst besitzen.

Je weniger Eigentümer es gibt, desto einfacher ist die Umrüstung – so etwa im sozialen Wohnbau. Im zweiten Bezirk bastelt die Sozialbau AG etwa gerade an einer Grätzel-Energiegemeinschaft zwischen mehreren Wohnblocks, die ähnlich wie das Anergienetz in der Geblergasse funktioniert. Noch einfacher geht es freilich im Neubau. 1.900 Wohnungen und Geschäftslokale, die bis 2026 im Rahmen des Stadtentwicklungsgebiets "Village im Dritten" entstehen, sollen etwa beinahe autark beheizt werden können. 500 Erdwärmesonden liefern dafür die notwendige Wärme aus der Tiefe. Im Neubau brauche man außerdem nur einen Bruchteil der Energie, die in älteren Häusern notwendig ist.

Seit Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine wollen immer mehr aus russischem Gas aussteigen. Wie das funktionieren könnte und was sich dafür ändern müsste.
DER STANDARD

Fernwärme für die Masse

Aber wie bekommt man nun die hunderttausenden Gasthermen aus den Wiener Altbauten? Die Stadt sieht die Lösung vor allem in der Fernwärme. Schon jetzt besitzt Wien eines der größten Fernwärmenetze Europas. Bis 2040 soll es weiterwachsen, und die Hälfte aller heute mit Gas beheizten Wohnungen soll an die Fernwärme angeschlossen sein. Für den Rest, vor allem in den dünner besiedelten Stadtteilen, werde die Wärmepumpe die Heizung der Wahl sein, in einigen Fällen auch Pelletsheizungen, sagt Cerveny.

Wer heute mit Fernwärme heizt, ist aber trotzdem nicht unabhängig vom Gas: Rund die Hälfte der Wärme wird immer noch mit dem klimaschädlichen Energieträger erzeugt, vor allem durch die sogenannte Kraft-Wärme-Kopplung in Kraftwerken, die dadurch effizienter werden. Mit der Dekarbonisierung der Stromerzeugung soll gleichzeitig auch der Gasanteil in der Fernwärme immer weiter schrumpfen.

Größter Kraftakt

"Das ist das größte Reorganisationsprojekt der Energiebranche aller Zeiten", sagt Gudrun Senk, die bei Wien Energie den Ausbau der erneuerbaren Energien leitet. Weil das Gas wegmuss und gleichzeitig mehr Fernwärme gebraucht wird, sucht das Unternehmen dringend nach neuen Wärmequellen.

Da trifft es sich gut, dass unter Wien ein regelrechter Wärmeschatz schlummert: Vergangenes Jahr wurde das Aderklaaer Konglomerat fertig kartografiert, ein riesiges Warmwasserreservoir in 3.000 Meter Tiefe. Bis 2030 soll es die Wärme für 125.000 Haushalte liefern und den Gasanteil im Fernwärmenetz weiter drücken.

Doch so eine Bohrung sei kein leichtes Unterfangen. Damit sich das Warmwasser nicht mit dem kalten Rücklauf vermischt, müssen die Entnahme- und Einspeisepunkte einige Kilometer voneinander entfernt sein. "Wir bohren nicht kerzengerade hinunter", sagt Senk. Weil den Eigentümern von Grundstücken diese in Österreich bis zum Erdmittelpunkt gehören, muss bei einem Geothermieprojekt aber zunächst mit allen Eigentümern über die Bohrungen verhandelt werden – auch wenn diese hunderte Meter unter Gebäuden verläuft. Das dauert.

Wärme aus Schmutzwasser

Schneller soll hingegen eine Großwärmepumpe ans Netz gehen, die gerade in der Kläranlage in Simmering gebaut wird. Denn auch im Abwasser steckt Wärme – die im Winter für jeden sichtbar (und manchmal riechbar) als Dampf aus Kanaldeckeln strömt. In der Kläranlage wird ab 2023 aus schmutzigem Wasser saubere Wärme, die zunächst für 56.000, im Vollausbau schließlich für doppelt so viele Haushalte reichen soll.

Gasherde fallen beim Gesamtverbrauch kaum ins Gewicht.
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Bleibt noch die Preisfrage: Zahlt sich das auch finanziell aus? Dieses Jahr stiegen die Preise für Fernwärme erstmals seit 2016 – dafür gleich um das Doppelte, was vor allem am hohen Gasanteil liegt. Wie hoch die Kosten für Fernwärme in der gasfreien Zukunft sein werden, kann oder will Wien Energie nicht sagen. Nur: "Der Preis wird stabiler sein – und nicht mehr abhängig von geopolitischen Faktoren", versichert das Unternehmen gegenüber dem STANDARD.

Kaum ins Gewicht fallen übrigens die in Wien immer noch verbreiteten Gasherde, sie sind nur für ein Prozent des gesamten Erdgasverbrauchs der Stadt verantwortlich. Im Gegensatz zum Heizen ist der Umstieg auf einen Elektroherd zudem schnell und einfach erledigt. (Philip Pramer, 2.8.2022)