Auch jetzt, fast zwei Monate danach, bekommt Wolfgang Kölli eine belegte Stimme, wenn er von diesem letzten Kilometer – oder war es die letzte Meile? – erzählt.

Denn da, bei der letzten Markierung vor dem Ziel, wartete Sebastian. Sebastian ist Wolfgang Köllis Sohn – er ist zehn Jahre alt.

Obwohl man eigentlich 18 Jahre alt sein muss, um als offizieller Pacer einsteigen zu dürfen, hatte Sebastian eine Ausnahmeerlaubnis bekommen. Und eine offizielle Pacer-Startnummer. "Ich bin dann diesen letzten Kilometer an der Hand meines Sohnes gelaufen", sagt Wolfgang Kölli – und schluckt hörbar.

Der 50-jährige Steirer steht dazu: "Einer der emotionalsten Momente meines Lebens."

Foto: Wolfgang Kölli

Diesem letzten Kilometer waren allerdings 160 andere vorausgegangen. 160 Kilometer, von denen der nahe bei Graz lebende und im steirischen Landesdienst für die Gewässerverwaltung zuständige Familienvater fast seit jenem Tag träumte, an dem er erkannte, dass Straßenlaufen zwar fein, Traillaufen aber mehr als einfach nur feiner ist.

Für ihn persönlich zumindest. Das war 2015. In Seattle. Bei einem Besuch bei seinen Schwiegereltern. "Obwohl ich daheim nur in den Wald gehen müsste, bin ich bis dahin immer auf Asphalt gelaufen", lacht Kölli – und setzt nach: "Ja, im Nachhinein ist das nur schwer nachzuvollziehen."

Foto: Wolfgang Kölli

Erst recht, wenn man weiß, wovon der Wasser-Mann da in Seattle zu träumen begann: vom "Western States Endurance Run" nämlich. Kurz "Western State" genannt. Also der Legende der Legenden. Der Mutter aller Ultratrails. Der ... ach, lassen wir das: Falls Sie sich in diesem Segment der Laufwelt auskennen, beginnen Sie bei "Western State" nämlich ziemlich sicher ohnehin von selbst zu hyperventilierten.

Wenn Sie von diesem seit 1974 gelaufenen 100-Meilen-Lauf, den Kölli heuer als der überhaupt erst dritte Österreicher "finishte", aber noch nie gehört haben sollten, kommt hier ein kurzer historischer Exkurs.

Foto: Wolfgang Kölli

Der "Western State" ist der älteste 100-Meilen-Traillauf der Welt. Damals lief ein gewisser Gordy Ainsleigh den bis dahin seit 1955 auf der gleichen Strecke abgehaltenen "Tevis Cup", einen 100-Meilen-Distanzritt: 1973 hatte Ainsleighs Pferd nach 29 Meilen gelahmt – im Jahr darauf trat der Reiter dann ohne Pferd an.

Den Tevis Cup gibt es noch, aber seit 1974 wird durch die Sierra Nevada eben auch gelaufen: Ainsleigh wollte beweisen, dass auch ein Mensch innerhalb eines Tages eine mehr als anspruchsvolle Strecke mit über 5.500 Bergauf- und 7.000 Bergab-Höhenmetern schaffen kann. Er war nach 23 Stunden und 42 Minuten im Ziel.

Foto: Wolfgang Kölli

Mittlerweile laufen hier aber (auch) die Stars und Profis. 2011 siegten mit Kilian Jornet (Spanien) und Ellie Greenwood (Großbritannien) erstmals Teilnehmende aus Europa. Die aktuelle Bestzeit hält aber der US-Langstreckenrekordläufer Jim Walmsley – er lief die 161 Kilometer im Jahr 2018 in 14:09:28.

Superstars laufen aber in anderen Welten. Nicht nur was die Zeiten, sondern auch was die Starts an sich angeht. Denn dass ein Kilian Jornet zuerst Qualifikationszeiten schaffen muss, um überhaupt an einer Startplatzlotterie teilnehmen zu dürfen, ist wohl eher unwahrscheinlich.

Wobei die Quali-Zeiten auch für versierte, sehr gute Hobbyläufer wie Wolfgang Kölli zu schaffen sind. Doch dann wird es rasch eng. Sehr eng.

Foto: Wolfgang Kölli

Denn beim Western State dürfen – auch aus Umweltschutzgründen – allerhöchstens 369 Teilnehmerinnen und Teilnehmer starten. Wegen der Corona-Auflagen im Vorjahr waren es heuer ausnahmsweise aber 385.

Davon wurden 220 durch das Los bestimmt – diese Zahl variiert jedes Jahr geringfügig, abhängig von der Zahl der antretenden (Super-)Stars. "Im Topf waren dieses Jahr über 30.000 Lose von insgesamt 7.000 Läuferinnen und Läufern", beginnt Wolfgnag Kölli das nicht ganz einfache Verfahren zu erklären: Die Zahl der Lose pro Läufer bzw. Läuferin ergibt sich aus einem Schlüssel aus Qualifikationszeiten und Jahren, die jemand schon versucht, mit dabei zu sein. Bei Kölli begann dieses Spiel im Jahr 2017 – da nahm er das erste Mal an der Lotterie teil.

Doch auch heuer landete der Steirer zunächst nur auf der Warteliste – als Neunter: "Ich habe erst am 16. April erfahren, dass ich am 25. Juni starten kann."

Foto: Wolfgang Kölli

Was da nach einer (beinahe) spontanen Sache klingt, ist natürlich genau das Gegenteil davon: Die Vorbereitung auf einen Stunt wie diesen beginnt lange vor dem eigentlichen Bewerb. Lange bevor klar ist, ob man überhaupt einen Startplatz bekommen wird. "Das ist ein Riesenaufwand, den man über Jahre betreibt", erzählt Wolfgang Kölli. Mental, sportlich, logistisch – und finanziell. "Ja, man muss das schon sehr, sehr wollen", lacht der Läufer – und wird ernst: "Aber vor allem muss die Familie mitspielen."

Denn die, betont Wolfgang Kölli, geht auf alle Fälle vor. Sie ist es aber auch, die den 50-Jährigen überhaupt erst zum Laufen brachte.

Foto: Wolfgang Kölli

Denn auch wenn man einem 160-Kilometer-Läufer in der Regel eine jahrzehntelange Laufhistorie unterstellen würde, ist das beim dritten Western-State-Österreicher anders: "Als meine Frau schwanger war, wurde ich – was meine Figur angeht – mitschwanger", schmunzelt der Läufer.

Als Sebastian dann da war, hatte der frischgebackene Vater zehn Kilo mehr – und überlegte, wie er diese wohl wieder loswerden könnte. Laufen, sagt Kölli, schien ihm eine probate Methode. Doch auch wenn er in seiner Jugend sportlich gewesen war, fing er nun fast bei null an: "Am Anfang war ich froh, wenn ich fünf Kilometer schaffte."

Foto: Wolfgang Kölli

Aber Sport, Laufen, wurde rasch mehr als ein reines Fitness-, Gesundheits- und Abnehmtool. "Laufen ist mein Yoga. Das ist meine Me-Time. Daraus schöpfe ich Lebensqualität", sagt Kölli. Der Benefit fand aber nicht nur im Kopf seinen Niederschlag: Kölli entwickelte rasch Ehrgeiz, begann genau zu planen – und legte sogar Jahresberichte an, in denen Läufe, Umfänge, Kilometerzahlen und dergleichen protokolliert sind.

2014 lief er seinen ersten Marathon. In Graz, also daheim. "Ich war sehr gut vorbereitet und lief fast auf die Sekunde genau nach Plan in vier Stunden." Und so nüchtern, wie das klingt, war es wohl auch: "Dieses Mega-Glücksgefühl war nicht da. Ich fragte mich: Ist das das Ende der Fahnenstange?"

Foto: Wolfgang Kölli

Dass es mehr gibt als Straßenläufe, entdeckte Kölli, wie schon erwähnt, ein Jahr später in Seattle. Dort lief er 2015 beim "Mud & Chocolate"-Trail eine Halbmarathondistanz – und "war ab diesem Moment infiziert: Der Untergrund hatte es mir angetan." Plötzlich war da ein neues Ziel: "Ich wollte nicht mehr in den Städten Läufe sammeln, sondern draußen, im Gelände."

Dann fiel ihm Dean Karnasz' "Ultramarathon Man: Aus dem Leben eines 24-Stunden-Läufers" in die Hände.

Und als Wolfgang Kölli es aus den Händen legte, war da ein Traum. "Ein Lebenstraum. Ich wollte Ultratrails laufen. Nicht einfach irgendeinen – sondern den, mit dem alles angefangen hat: den Western State."

Foto: Wolfgang Kölli

Wolfgang Kölli plante. Plante für 2017. Lief seinen ersten 60-Kilometer-Lauf. Lief dann beim "Mozart 100" seinen ersten 100er und das erste Mal die Qualifikationszeit für den Western State – und wurde nicht gezogen.

Das, sagt er, gehöre eben dazu. Auch das sei Teil des Trainings: Das Nicht-Aufgeben, das Nicht-Zweifeln während des langen, langen, langen Weges zum eigentlichen Bewerb sei oft schwieriger als das Durchbeißssen zwischen Start- und Ziellinie. Der Bewerb selbst dauert ja "nur" ein paar Stunden. Einen Tag. Sich auf dem Weg dorthin nicht selbst zu verlieren ist oft die weit größere Herausforderung.

Foto: Wolfgang Kölli

Doch dann, schlagartig, war es so weit: Frau und Sohn fieberten bei der Ziehung für 2022 mit. Jubelten, als der Gatte, der Vater, auf der Warteliste stand. Sahen, wie er dort vom neunten Platz langsam in Richtung "echter" Startplatz rutschte. Und waren ab dem 16. April ebenso startklar wie der eigentlich Starter: jetzt bloß keine Verletzung. Nur kein auch noch so kleiner Infekt. Und vor allem: Jetzt keine Corona-Infektion aufreißen!

Es ging sich aus.

Und dann stand Wolfgang Kölli am 25. Juni dort, wo er seit Jahren stehen wollte: an der Startlinie der Mutter aller Ultratrails – des Western State.

Foto: Wolfgang Kölli

Der Lauf selbst? "Unbeschreiblich." Erklären, bedauert Kölli, könne man das kaum. Vielleicht ja auch gar nicht. Nicht nur wegen der Landschaft, der Impressionen, der Gefühle und der Erlebnisse unterwegs ("Da war sogar eine Klapperschlange") – auf Köllis Facebook-Seite "Zweiundvierzigundmehr" (von dort stammen die meisten der Bilder hier) kann man ein wenig davon mit- und nachempfinden.

"Es ist die Vollkommenheit dieses Trails", schwärmt Wolfgang Kölli – und betont, dass er da den "absolut perfekten Lauf erlebte: Ich hatte keinen einzigen Krampf, mir wurde nie schwindlig oder übel." Das sei nicht nur Glück, sondern auch Vorbereitung – vor allem im Kopf: "Ich war so positiv eingestellt, das ich mir unterwegs kein einziges Mal die Sinnfrage, die nach dem 'Wieso eigentlich' stellte: Der Lauf war vom ersten bis zum letzten Schritt die Belohnung für alles, was mich zu ihm geführt hatte."

Foto: Wolfgang Kölli

Und dann der letzte Kilometer. Oder war es die letzte Meile?

Sebastian, der mit seiner Pacer-Startnummer (am letzten Teil des Laufes sind Pacer erlaubt) auf seinen Papa wartet. Und ihn stolz und sicher und wohlbehalten ins Ziel bringt.

Wolfgang Köllis Stimme klingt kurz wieder rau.

Foto: Wolfgang Kölli

Und jetzt? Seine eigenen Erinnerungen an den Weg zum und beim Western State lasse er sich in ein Buch binden. Nur für sich und seine Familie. Da stehe dann auch seine Zeit (27:10:39) und sein Rang (165.) drin.

Aber was viel mehr zählt, sagt Wolfgang Kölli, sei etwas anderes: Da war dieser Traum – und den habe er sich erfüllt: "Weißt du, ich bin vielleicht nicht der schnellste Läufer – aber ganz bestimmt der Glücklichste." (Tom Rottenberg, 2.8.2022)

Mehr Impressionen von unterwegs gibt auf Wolfgang Köllis Facebookseite & Blog.


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Foto: Wolfgang Kölli