Demonstranten mit Galgen und Rufen nach "Nürnberg 2.0" sieht man jüngst wieder häufiger – wie hier in Salzburg. Maßnahmengegner und Putin-Propagandisten radikalisieren sich im Netz.

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Was haben AMS-Chef Johannes Kopf, Punkmusiker und Politiker Marco Pogo und Schauspieler Christoph Waltz gemeinsam? Sie alle stehen am Online-Pranger. Der Vorwurf gegen die Aufgelisteten: Sie sollen sich am Corona-Unrecht beteiligt haben. Dabei sind die Obengenannten in allerbester Gesellschaft: Vom deutschen Gesundheitsminister Karl Lauterbach über seinen Amtskollegen Johannes Rauch bis hin zu Ärzten, Medienleuten und Köpfen aus Kunst, Kultur und Wirtschaft reicht die Liste – auch ein großer Teil der Journalistinnen und Journalisten des STANDARD findet sich hier wieder.

Der Pranger im Netz

Auf der Website "Ich habe mitgemacht" veröffentlichen Corona-Leugner, Maßnahmengegner und Impfverweigerer Beweise für angebliches "Corona-Unrecht", das die Personen begangen haben sollen. Dafür reicht oft schon ein Tweet oder ein Instagram-Posting mit einem Aufruf zum Tragen der Maske aus. In der Querdenker-Szene erhält die Seite regen Zuspruch und auch kostenlose Mitarbeiter: Denn die melden eifrig Zitate, Artikel und Kommentare zu Corona-Maßnahmen ein, und der Autor wird an den Pranger gestellt.

Das geschieht ganz einfach per Online-Formular. Ein Klick genügt, und den unfreiwillig Geouteten wird "Zivilisationsbruch", Menschenverachtung und Drangsalierung vorgeworfen. Über 1.400 Personen aus Politik, Medien, dem Bildungs- und Gesundheitswesen und von Behörden finden sich bereits auf der Seite. Das nimmt teilweise absurde Ausmaße an: Selbst ein Anbieter von Pornofilmen geriet ins Visier der Querdenker – aufgrund eines zweideutigen Wortwitzes.

Aber gerade der Fall Lisa-Maria Kellermayr beweist: Daran ist nichts zu lachen, der Mob tobt, bedroht und verfolgt unerbittlich. Im Fall der jungen Ärztin aus Oberösterreich bis in den Suizid. Als Register zur Jagd auf Menschen will sich der Betreiber freilich nicht verstanden wissen. Es handle sich lediglich um ein Dokumentationszentrum, das von einem "grundsoliden Kreis besorgter Archivare" betrieben werde, so die Eigendefinition.

Dieselfahrer und Waffenbesitzer

Der Kopf hinter der Website ist Burkhard Müller-Ullrich, ein ehemaliger langjähriger Moderator des Deutschlandfunks (DLF) und Talkshow-Host bei SWR2. Von Cham in der Schweiz aus betreibt er den Online-Pranger. Er sei zugunsten seines Sohnes "vor der deutschen Politik geflohen", damit der 15-Jährige nicht verkümmere und weiter in die Schule gehen könne, was in Köln nicht mehr möglich gewesen sei", sagt Müller-Ullrich im Gespräch mit dem neurechten Sprachrohr "Junge Freiheit".

Burkhard Müller-Ullrich versteht es zu provozieren. In seinem Twitter-Profil bezeichnet er sich als Dieselfahrer, Waffenbesitzer und Vielflieger. "Die Medien sind unser Unglück", schreibt er kämpferisch. Doch ganz so wörtlich scheint er sein Motto nicht zu nehmen. Der 66-Jährige gründete nämlich vor kurzem selbst ein Medium: den Radiosender "Kontrafunk" – oder die "Stimme der Vernunft", wie Müller-Ullrich den Sender nennt.

Mottenkiste der Verschwörungserzählungen

Im Programm finden sich die gängigen Verschwörungsmythen von der Putin-Propaganda über die angebliche Kriegslüsternheit Europas. Das überspannende Thema bleiben aber die Corona-Impfung und die in Realität ohnehin nur noch spärlich vorhandenen Pandemiemaßnahmen. Musikalisch dominiert ganz klar der "deutsche Barde mit Klampfe", wie Übermedien berichten.

In seinem Radio äußert sich der Chef selbst oft zu "Wir haben mitgemacht". Diese Seite versteht er aber nicht als Pranger, sie diene lediglich "dokumentarischen" Zwecken. Also zur Sicherung von Beweisen über die angeblichen "Untaten" von Politikern, Künstlern, Journalisten, die sich beispielsweise für eine Impfung ausgesprochen haben. Dass er mit seinem digitalen Register zur Menschenjagd aufruft, bestreitet Müller-Ullrich in seinem Radiosender vehement. Rechtlich steht der Medienprofi mit seiner Denunziantenplattform auf der sicheren Seite: Die Einträge sind im Grunde nur Links zu öffentlich verfügbaren Quellen, und die Drohungen gegen die in den Augen der Verschwörungserzähler unliebsamen Personen schwingen nur zwischen den Zeilen mit.

Experte fordert Strafen für Cybermobbing

Doch welches Ziel verfolgen Menschen wie Burkhard Müller-Ulrich mit derartigen Listen? Andre Wolf, Fake-Jäger und Experte für Verschwörungserzählungen, gibt im Gespräch mit dem STANDARD die Antwort: "Silencing. Das ist eine Taktik, um Menschen ruhigzustellen." Durch gezielte Drohungen oder eben die Veröffentlichung der Namen der Opfer sollen diese so stark eingeschüchtert werden, dass sie sich in Zukunft zurückhaltender oder gar nicht mehr öffentlich äußern.

Im Fall der Site "Ich habe mitgemacht" wird laut Wolf ganz klare Täter-Opfer-Umkehr betrieben. Doch was tun? "Da stehen wir vor dem Problem: Wie können wir die Menschen schützen?" Gerade hier liegt in Österreich viel im Argen, sagt Wolf: "Wenn ich eine Anzeige machen möchte, weil ich online bedroht werde, dann muss ich die Beweise auf Papier bringen. Dann beweist das, dass die Ermittler gar nicht die Mittel haben, um etwas zu unternehmen. Cybermobbing und Silencing müssen Konsequenzen haben, und zwar für die Täterinnen und Täter, und das muss jetzt passieren."

Cybermobbing und der Fall Kellermayr

Jüngstes tragisches Beispiel, wohin Gewaltaufrufe im Netz und fortgesetztes Cybermobbing führen können, ist der Fall der Ärztin Lisa-Maria Kellermayr. "Kellermayr ist in den Tod getrieben worden. Das ist der perfekte Mord. Durch Desinformieren, Diskreditieren, Cybermobbing und den fehlenden Rückhalt von Behörden wurde ein Mensch so in die Ecke gedrängt, dass sie den Tod als letzten Ausweg für sich sah", sagt Wolf.

"Dabei hat Kellermayr meiner Meinung nach das Richtige gemacht, sie ist laut geworden. Und dann kamen plötzlich die Behörden und sagten ihr, sie soll ruhig sein. Das ist ein Fehler, die Behörden haben das Silencing-Spiel mitgemacht, und das ist falsch. Digitale Zivilcourage heiße auch, immer aufzuzeigen, wenn Unrecht passiert, sagt Wolf. "Seit Jahren wird das gepredigt, aber im Ernstfall kommt eine Polizei und sagt, du musst ruhig sein. Motto: Halt einfach die Pappn, dann passiert nichts. Wir müssen alle die digitale Zivilcourage zeigen, aber wir müssen Rückhalt bekommen. Wenn ich sage, hier geschieht Unrecht, muss hinter mir eine Behörde stehen", fordert Wolf. (Peter Zellinger, 3.8.2022)