Schon ein paar Mal wurde Ayman al-Zawahiri totgesagt, vergangenen Herbst tauchte wieder eine Videobotschaft auf.

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Hinter das – für den größten Teil der Weltöffentlichkeit völlig unverständliche – Charisma von Osama bin Laden fiel er stets zurück. Dabei war Ayman al-Zawahiri, der am Sonntag in Kabul bei einem US-Drohnenangriff gezielt getötet wurde, eine mindestens so prägende Figur für Al-Kaida wie sein Vorgänger. Zawahiri hatte die Terrororganisation 2011 übernommen, nachdem die USA bin Laden in Abbottabad in Pakistan aufgespürt und liquidiert hatten, buchstäblich, denn sie ließen auch seine Leiche verschwinden. Elf Jahre stand sein Nachfolger unbehelligt an der Spitze der Organisation.

Der Ägypter Zawahiri und der Saudi bin Laden bildeten die geografische Brücke zwischen zwei Ideologien, die sich unter dem Palästinenser Abdullah Azzam (1941–1989) zu einer explosiven Mischung verbunden hatten: einem aus dem Mainstream entgleisten wahhabitischen Salafismus und einem radikalisierten Ableger der Muslimbruderschaft, dem ägyptischen Islamischen Jihad. Al-Zawahiri, der "Doktor" – er war tatsächlich Arzt –, galt als Intellektueller und Stratege und als führender Kopf bei den Anschlägen von 9/11.

Später Triumph

Der Tod des 71-Jährigen ist ein Lichtblick in der schwierigen Präsidentschaft von Joe Biden und ein später Triumph für die USA: "Wenn ihr eine Bedrohung für unsere Leute seid, werden wir euch ausschalten", sagte er bei der Bekanntgabe. Aber die Umstände sind gleichzeitig Zeugen einer verfehlten US-Politik ab. Für sie ist der jetzige US-Präsident zwar keineswegs alleine verantwortlich. Aber in seiner Amtszeit gaben die USA Afghanistan, in das sie nach 9/11 mit breiter internationaler Unterstützung und Beteiligung einmarschiert waren, das Land den Taliban quasi zurück.

Die islamisch-nationalistischen Paschtunen hatten sich Mitte der 1990er, ein paar Jahre nach dem Abzug der Sowjets 1989, im afghanischen Bürgerkrieg durchgesetzt und später Al-Kaida unter bin Laden in Afghanistan Zuflucht und immer mehr Einfluss gewährt. Das afghanische demokratische Experiment, das nach ihrem Sturz 2001 begann, scheiterte auch an der Art der US-Kriegsführung, die viele Afghanen und Afghaninnen gegen alles, was von außen kam, aufbrachte.

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Zusammenbruch

Biden beendete vor ziemlich genau einem Jahr den US-Einsatz in Afghanistan, alle andere Verbündeten folgten ihm und verließen das Land. Der Abzug war chaotisch, die Übernahme der Taliban glich einem westlichen Zusammenbruch. US-Präsident Donald Trump hatte zuvor eine Machtbeteiligung der Taliban verhandelt: Eine der Bedingungen war, dass die Taliban alle – anderen – Terrorgruppen aus Afghanistan fernhalten sollten.

Dass man al-Zawahiri nun genau in der afghanischen Hauptstadt gefunden hat, ist eine weitere US-Niederlage. Es heißt, er habe in einem Haus Sirajuddin Haqqanis, praktisch die Nummer zwei der Taliban, gelebt. Die Taliban haben Afghanistan bekommen und die Führung von Al-Kaida wieder aufgenommen. Zawahiri mag nicht mehr die organisatorische Rolle in der mittlerweile dezentralisierten Organisation gehabt haben, deren regionale Zweige autark agieren, aber er war deren unbestrittener Führer.

Vielleicht setzten die Taliban auf die Unterstützung von Al-Kaida bei der Bekämpfung des "Islamischen Staats", dessen Terror sie nie Herr wurden. Aber jemand muss Zawahiri verraten haben, die Gründe dafür wird man eventuell später erfahren. Es kann aber auch nur das Geld gewesen sein, die USA hatten 25 Millionen Dollar auf ihn ausgesetzt.

Al-Kaida, in den späten 1980er- Jahren gegründet und vom Jemen bis nach Afrika präsent, hatte nach dem Einmarsch der USA und ihrer Verbündeten im Irak 2003 eine Blütezeit erlebt. Durch "Politikfehler", die bin Laden in seinen Schriften auch zugab, verlor sie jedoch die Unterstützung jener Kräfte, vor allem der sunnitischen Stämme, die sie zuvor als Vehikel für ihren Widerstand gegen die USA und die neuen Herren in Bagdad benützt hatten. 2010 schien sie zumindest im Irak ziemlich am Ende.

Mit dem Krieg in Syrien erhielt Al-Kaida in der Region eine neue Chance: Sie konnte einen demokratischen Aufstand zum religiösen Kampf der Sunniten gegen ein "ungläubiges" alawitisches Regime umdeuten. Aber durch den Aufstieg des "Islamischen Staats" (IS), der sich anders als Al-Kaida direkt an die Spitze eines Pseudostaats setzte, wurde Al-Kaida in den Hintergrund gedrängt.

Konkurrent IS

Bevor sein Führer Abu Bakr al-Baghdadi sich selbstständig machte, war auch der IS Teil Al-Kaidas. Nach der Trennung 2013 lief er Al-Kaida den Rang als schrecklichste jihadistische Terrororganisation bald ab.

Aber Al-Kaida blieb bestehen, auch nach dem Tod von Osama bin Laden. Gerade in der jüngsten Zeit waren von al-Zawahiri wieder Lebenszeichen – etwa ein Video zum 20. Jahrestag von 9/11 – zu vernehmen. Ein paarmal wurde er totgesagt, angeblich war er krank, und lange hätte Zawahiri, obwohl er nicht so alt war, vielleicht nicht mehr zu leben gehabt.

Nachfolgergerüchte

Als möglicher Nachfolger wird wieder ein Ägypter, Sayf al-Adel (geboren 1960 oder 1963), genannt. Er gehörte zu jenen Al-Kaida-Mitgliedern, die nach dem Sturz der Taliban 2001 in den Iran flohen. Zuletzt soll er in Pakistan gelebt haben, aber das ist nicht gesichert. Er ist zwar lange dabei, aber nicht Teil der alten Führungsgarde. Er wird vielleicht im Schatten bleiben wie die Nachfolger des getöteten IS-Führers al-Baghdadi.

Ayman al-Zawahiri war seine Rolle nicht in die Wiege gelegt. Er wurde 1951 – also knapp noch in der ägyptischen Monarchie – in Gizeh geboren, in eine Familie von angesehenen Gelehrten und Medizinern. Den Muslimbrüdern schloss er sich in der Zeit von deren Verfolgung durch Präsident Gamal Abdel Nasser als Jugendlicher an.

Zawahiri gehörte zu jenen Muslimbrüdern, die in die radikale Ideologie des 1966 hingerichteten Sayyid Qutb abdrifteten. Nach der Ermordung von Präsident Anwar al-Sadat 1981, der Frieden mit Israel geschlossen hatte, wurde er verhaftet und gefoltert. Anfang der 1980er-Jahre war er aber auch schon ein erstes Mal in Pakistan, um als Arzt verwundeten Mujahedin beizustehen, die – von den USA unterstützt – in Afghanistan gegen die Sowjets kämpften. Osama bin Laden soll er 1986 in Jeddah in Saudi-Arabien kennengelernt haben, zwei Jahre später wurde Al-Kaida gegründet. (Gudrun Harrer, 2.8.2022)