Quo vadis, Dynamo? Die Spieler von Kiew sind talentiert, gefestigt und wissen, worum es geht.

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Kiews Mircea Lucescu ist ein renommierter Trainer.

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Selten war ein Freundschaftsspiel feierlicher: Als Dynamo Kiew am vergangenen Sonntag in Liverpool den FC Everton traf, war für alles gesorgt. Die Spieler beider Vereine liefen mit ukrainischen Flaggen ein, im Vorfeld wurde die ukrainische Hymne gespielt. Wenn der Klub zu Charity-Spielen in ganz Europa antritt, sind es fußballerische Festtage. Der Verein möchte so Spenden sammeln und Bewusstsein für das Leid der ukrainischen Bevölkerung schaffen. Von diesen Festtagen soll es in Zukunft wieder mehr geben. Dabei soll aber das Sportliche im Vordergrund stehen. Gegen Österreichs Vizemeister Sturm Graz spielt der Verein um die Teilnahme an der Königsklasse.

Von Normalität ist die Ukraine sehr weit entfernt, sportlich will man sich ihr annähern. Die Liga soll bald starten, das Nationalteam schaffte es bis ins Playoff zur Weltmeisterschaft in Katar. Im Regen von Cardiff setzt es allerdings ein 0:1 gegen Wales. Jetzt liegen also die Hoffnungen auf den Blau-Weißen aus der Hauptstadt. Dynamos Heimspiele finden aufgrund des Krieges in Lodz, Polen, statt. Das liegt näher an Graz als an der ukrainischen Hauptstadt.

Kiew ist eine Stadt mit großer Fußballtradition. 2027 feiert der Verein sein hundertjähriges Bestehen. Dynamo gewann dreizehnmal die sowjetische Meisterschaft und neunmal den Cup. In der ewigen Tabelle der Sowjetunion liegt der Verein auf Rang zwei, elf Punkte hinter Spartak Moskau. Seit der Unabhängigkeit der Ukraine ist der Verein Rekordmeister mit 16 Titeln und gleichauf mit Donezk Rekordcupsieger (je 13 Siege). Unter dem Duo aus Trainer Walerji Lobanowskyi und Stürmer Oleh Blochin holten die Hauptstädter 1975 und 1986 den Pokal der Pokalsieger. Blochin wurde 1975 mit dem Ballon d’Or als Europas bester Fußballer ausgezeichnet.

Trainerfuchs

Auf der Trainerbank sitzt bei Dynamo ein Meister seines Fachs. Der Rumäne Mircea Lucescu ist einer der profiliertesten Trainer Osteuropas. Am 29. Juli feierte er seinen 77. Geburtstag, Fifa-Präsident Gianni Infantino gratulierte per Brief. Mit dem heimischen Rivalen Shaktar Donezk holte er 2009 den letzten Uefa-Cup, bevor der Wettbewerb in Europa League umbenannt wurde. Darüber hinaus ist er mehrfacher türkischer, rumänischer und ukrainischer Meister. Sturms Coach Christian Ilzer nennt ihn einen "Trainerfuchs". Die Fuchsigkeit wird gefragt sein, denn international erfahrene Routiniers sucht man im Kader Dynamos vergebens.

Durch den Kriegszustand ermöglichte es die Uefa Spielern ukrainischer Vereine, auch außerhalb der üblichen Wechselfenster den Klub zu wechseln. Kürzlich verabschiedete sich der slowenische Internationale Benjamin Verbic zu Panathinaikos Athen. Für den Verein gilt es somit, aus der Not eine Tugend zu machen. Seit jeher ist die Fußballschule Dynamos hoch angesehen, Blochin und Weltklassestürmer Andrij Schewtschenko durchliefen sie. Aktuell sind der Innenverteidiger Ilya Zabarnyi, der Mittelfeldspieler Mykola Shaparenko und Flügelstürmer Viktor Tsygankov verheißungsvolle Versprechen für die Zukunft. Mit Georgiy Bushchan steht ein Goalie internationalen Formats im Tor.

Jetzt erst recht

Verunsichern lässt sich Dynamos junge Garde nicht, auch nicht von Provokationen gegnerischer Fans. So stimmte der Anhang von Fenerbahce Istanbul im Rückspiel zur zweiten Qualifikationsrunde der Champions League "Wladimir Putin"-Rufe an. Von Erfolg gekrönt waren diese Provokationen nicht. Kiew blieb nervenstark, siegte auswärts nach Verlängerung. In der Mannschaft stimmt das Verhältnis von mentaler Stärke und sportlicher Qualität.

Generell wirkt Dynamo gefestigt dafür, dass die Spiele gegen Fener die ersten beiden Pflichtspiele seit Kriegsbeginn waren. Lucesu zeigte sich jüngst zufrieden über den Verlauf der Vorbereitung: "Durch die Spiele gegen gute Gegner konnten wir versuchen, ein möglichst hohes Level zu erreichen. Aber die Champions-League-Qualifikation wird eine ganz andere Geschichte." Regisseur und Spielmacher Shaparenko kündigte an, man sei bereit für den nächsten Kampf und spiele für die gesamte Ukraine. Es scheint eine Jetzt-erst-recht-Mentalität im Verein zu herrschen. Das macht es für Sturm nicht leichter. (Jens Wohlgemuth, 2.8.2022)

Fußball-Champions-League, 3. Qualifikationsrunde, Hinspiel:

Dynamo Kiew – SK Sturm Graz (Lodz, Stadion Miejski, Mittwoch, 20.00 Uhr/live ORF 1, SR Francois Letexier/FRA).

Kiew: Buschtschan – Kedziora, Sabarny, Popow, Dubintschak – Schaparenko, Sidortschuk – Zygankow, Buyalsky, Garmash – Besedin

Es fehlen: Supryaha (Hüftverletzung), Kargbo (Schien- und Wadenbeinbruch)

Sturm: Siebenhandl – Gazibegovic, Wüthrich, Affengruber, Dante – Hierländer, Gorenc-Stankovic, T. Horvat, Prass – Sarkaria, Höjlund

Es fehlen: Jantscher (Muskelfaserriss in der Wade), Kiteishvili (Achillessehnen-Reizung), Geyrhofer (Knieprobleme), Trummer (Ödem im Rücken)

Rückspiel am 9. August (20.30 Uhr) in Graz. Aufsteiger im Play-off gegen Benfica Lissabon oder Midtjylland (Spieltermine: 16./17. August/heim bzw. 23./24. August/auswärts)