Liz Truss bezeichnete die schottische Ministerpräsidentin als "Wichtigtuerin".

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War sich Liz Truss ihrer Sache schon zu sicher? Rechtzeitig zu dem Tag, an dem die Wahlzettel für Boris Johnsons Nachfolge als konservativer Partei- und britischer Regierungschef bei mehr als 150.000 Tory-Mitgliedern ankamen, verkündete die haushohe Favoritin am Montag eine umfassende Reform des öffentlichen Sektors. Im Londoner Verwaltungsviertel Whitehall, wo alle Ministerien untergebracht sind, gebe es "zu viel Bürokratie und Gruppendenken", behauptete die amtierende Außenministerin. Eine "schlankere, fokussierte" Zentralverwaltung unter ihrer Führung könne ebenso zu Einsparungen von mehr als zehn Milliarden Euro beitragen wie eine stärkere regionale Auffächerung der Gehälter im öffentlichen Dienst.

Gegen die vermeintlich nichtsnutzigen Londoner Bürokraten zu wettern kommt allemal gut an. Die Differenzierung der Gehälter hingegen stieß über Nacht auf einen Sturm der Entrüstung: Eifrige Erbsenzähler im Lager von Truss' Rivalen Rishi Sunak, der bis vergangenen Monat als Finanzminister gedient hatte, wiesen nach, bei der "Differenzierung" handle es sich in Wahrheit um Gehaltskürzungen in den ärmeren Regionen des Landes, vor allem in der Mitte und im Norden Englands. Dies werde auch Berufsgruppen wie Polizisten, Ärztinnen und Krankenpfleger betreffen, deren Lebensstandard ohnehin von der hohen Inflation bedroht ist.

Rasche Kehrtwende

Als sich ein regionaler Vertreter nach dem anderen mit Kritik zu Wort meldete, verkündete Truss rasch die Kehrtwende: So sei das alles nicht gemeint gewesen, hieß es plötzlich Dienstagmittag. Prompt war bei Sunaks Anhängern von einem "katastrophalen Aussetzer des Urteilsvermögens" die Rede. Schon waren sie wieder präsent, die Bedenken gegen die flinke Karrieristin Truss, deren Ehrgeiz ihre Sachkompetenz, zumal in Finanzfragen, weit übertrifft.

Auch interne Umfragen unter dem Stimmvolk – höchstens 0,3 Prozent der britischen Wahlberechtigten – legten den Schluss nahe, das beinahe schon für beendet erklärte Rennen könne noch einmal spannend werden. Hatten Demoskopen Truss nach dem Ende des Schaulaufens in der Unterhausfraktion einen Vorsprung von mehr als zwanzig Punkten bescheinigt, so meldeten Marktforscher zu Wochenbeginn lediglich einen Abstand von 48:43 Prozent.

Dabei sprach zuletzt fast alles für die Außenministerin, nicht zuletzt die Mitteilungen prominenter Tories, sie selbst würden Truss bevorzugen. Verteidigungsminister Ben Wallace begründete dies noch einigermaßen nachvollziehbar mit deren "größerer Erfahrung". Tatsächlich hat die 46-Jährige bereits mehrere Ressorts geführt, anders als Sunak, dessen Regierungszugehörigkeit sich aufs Finanzressort beschränkt.

Einstige Rivalen hoffen auf Regierungsposten

Dass aber der Liberalkonservative Tom Tugendhat die Kandidatin der harten Parteirechten als "Hoffnungsträgerin" titulierte, ebenso wie zuletzt noch die Handelsstaatssekretärin Penny Mordaunt – das ließ Londoner Beobachter schmunzeln, da wollten wohl einstige Rivalen ihren zukünftigen Anspruch auf schöne Regierungsposten geltend machen.

Sunak kämpft zudem gegen giftige Angriffe von Johnson-Getreuen. Diese führen, wie der Gestürzte selbst, das bevorstehende Ende seiner Amtszeit weder auf die endlosen Corona-Partys in der Downing Street noch auf die Unfähigkeit des einstigen Zeitungskolumnisten zurück. Vielmehr habe es einen von langer Hand vorbereiteten Palastcoup gegeben, angeführt vom ungetreuen 42-Jährigen.

Besonders eifrig gegen den früheren Kabinettskollegen agiert die Kulturministerin Nadine Dorries. Die einstige Autorin von Schundromanen beschränkt sich nun auf Twitter-Mitteilungen, in denen der Billigstschmuck der Außenministerin vorteilhaft mit den teuren Anzügen des Ex-Finanzministers verglichen wird – wenig subtiler Hinweis auf das beträchtliche Vermögen des früheren Goldman-Sachs-Bankers. Als die eifrige Truss-Propagandistin auch noch eine ekelhafte Karikatur verbreitete, auf der Sunak seinem früheren Chef den Dolch in den Rücken stößt, wurde es sogar der Kandidatin zu viel. Da habe sie, vertraute Truss einem Interviewer an, "ein ernstes Wort mit Nadine" gesprochen.

Truss will Schottlands Ministerpräsidentin ignorieren

Mit einer deutlich klügeren britischen Politikerin hingegen will die Premierministerin in spe überhaupt nicht sprechen. Nicola Sturgeon, 52, amtiert zwar seit acht Jahren als schottische Ministerpräsidentin, hat seither alle Wahlen in der stolzen Nordnation klar gewonnen. Truss aber tut die Nationalistin als "Wichtigtuerin" ("attention seeker") ab. Als Bewohnerin der Downing Street werde sie diese "einfach ignorieren".

Ob sich mit derlei Vogel-Strauß-Politik das knifflige Problem des schottischen Nationalismus bewältigen lässt? Das bezweifeln konservative Kenner der Region wie Alex Massie. Der Kolumnist des rechten Intellektuellenmagazins "Spectator" sagt Truss voraus, diese "grässlichen, unglaublich dämlichen" Äußerungen würden ihr noch auf die Füße fallen. Wer die populäre Edinburgher Regierungschefin auf diese Weise abqualifiziere, irritiere auch viele Schotten, die mit Sturgeons Nationalpartei SNP nichts zu tun haben wollen.

Irritierend dürften all jene in Brüssel, die dem Tory-Duell Aufmerksamkeit widmen, auch Truss' Bemerkung finden, wonach die EU "nur die Sprache der Stärke" verstehe. Wie ihr Rivale Sunak will auch die Chefdiplomatin des Königreichs das Nordirland-Protokoll und damit eine völkerrechtlich verbindliche Vereinbarung mit dem Brüsseler Club aufkündigen – eine von vielen Versprechungen beider Kandidaten, die so unhaltbar wie unbezahlbar wirken. Wer auch immer das Rennen macht – Kehrtwenden dürfte es nach der Entscheidung Anfang September noch reichlich geben. (Sebastian Borger aus London, 2.8.2022)