Das Berliner Kaffee 9, ein sicherer Hafen in unsicheren Zeiten.

Foto: Markthalle/Anna Warnow

Gleich am Eingang der knapp 120-jährigen Markthalle Neun gelegen, hat das Café die ganze Zeit seine Türen offen gelassen.

Foto: Markthalle/Anna Warnow

Die Pandemie hat alles verändert. Neue Lebensplanung, neue Prioritäten, neue Rituale. Aus der Metropole Berlin wurde eine Geisterstadt, der Ausgehbezirk Kreuzberg zum Ödland. Und doch gab es einige Orte, die Routinen gestatteten. Die Ruhe in einer aus den Fugen geratenen Zeit versprachen.

Ich hätte mir die Monate der zwei langen Lockdowns nicht ohne das Kaffee 9 in der Markthalle Neun vorstellen können. Gleich am Eingang der knapp 120-jährigen Halle gelegen, hat das Café die ganze Zeit über seine Türen offen gelassen, je nach Gesundheitsanordnung für Getränke zum Mitnehmen, zum Draußensitzen, zum Drinnenhocken, mit Maske, ohne Maske, Corona-Pass zeigen, aktuellen Test machen, ach, nein, heute nicht mehr. Das Café bildete eine Konstante im Meer der schlechten und verwirrenden Nachrichten, die tägliche Morgenbestellung war ein Highlight im ansonsten ereignislosen Trott: "Ein Espresso, bitte!"

Eine Schicksalsgemeinschaft

Kann etwas so Simples so beruhigend wirken? Unbedingt. Die Baristas im Café, die jeden Morgen ein wenig mehr an Anekdoten erzählten, und ich, der jeden Morgen ein wenig länger am Tresen schwatzte – wir wurden zur Schicksalsgemeinschaft. In Englisch und Deutsch, je nachdem, wer gerade in der Morgenschicht arbeitete. Ich erfuhr von einem australischen Mitarbeiter, dass er in London Musik gemacht hatte und mit einer Isländerin in Neukölln lebte. Ich hörte zu, wenn seine deutsche Kollegin von ihren Zeiten als Lufthansa-Stewardess erzählte – fantastische Märchen aus einer Ära, in der sich niemand vorstellen konnte, dass eines Tages Flugzeuge für Monate am Boden bleiben würden.

Noch heute gehe ich täglich ins Café, schaue in der Vitrine nach, ob es eine dieser leckeren Kreuzungen aus Donut und Croissant gibt, die Mitarbeiter hinter der Kasse scherzen mit mir ("Du warst zwei Tage nicht da, wir wollten schon die Polizei rufen!"), ich bestelle gleich zwei Espressi und setze mich auf die Holzbank ganz hinten. Im Sommer wollen die Gäste meist draußen sitzen, ich bin froh, drinnen zu sinnieren, über die Tische mit der Messingoberfläche zu streichen, das Leben im Großstadtzoo zu beobachten, und denke: Eine gute Sache hat die Pandemie hervorgebracht. Ich habe nun ein Lieblingscafé. (Ulf Lippitz, 5.8.2022)

Info: Kaffee 9, Eisenbahnstraße 43, Berlin, markthalleneun.de

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