Der Tod kann in Charkiw schnell kommen und völlig willkürlich, vor allem im Stadtteil Saltiwka, keine 40 Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Doch damit, dass die russischen Truppen ausgerechnet an diesem Vormittag Mitte Juli Raketen mit Streumunition auf den Barabaschowo-Markt feuern würden, habe niemand gerechnet, sagt Khaibar Karimi. Der 40-jährige Verkäufer steht fassungslos in seinem Laden mit den Lederjacken, Sonnenbrillen und Handtaschen. Der Boden ist bedeckt mit Glas. Während in die Hauptstadt Kiew mittlerweile wieder ein Hauch von Normalität gekehrt ist, gehen die Bewohner von Charkiw jeden Tag mit dem heulenden Geräusch der Sirene und den Explosionen der Artillerie in den Vorstädten ins Bett. Jeder Morgen beginnt mit Luftalarm. Deshalb, sagt Khaibar Karimi, habe er sich auch dieses Mal nicht in Sicherheit gebracht.

Stunden nach einem russischen Anschlag vor einem Fitnesscenter und einer Moschee in Saltiwka.
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Drei Menschen wurden getötet und mehr als 20 verletzt. Doch selbst in der Ukraine machen russische Anschläge wie dieser kaum noch Schlagzeilen. Sie passieren so oft, überall. Zwischen den ausgebrannten Pkws, den zerbrochenen Vitrinen der Läden und einem Bus, der mit zerplatzen Reifen und zerborstenen Scheiben mitten auf der Straße steht, beseitigen die Marktverkäufer die Trümmer. Manche haben Tränen in den Augen: "Wir haben den Leuten vom Notdienst geholfen, als sie die Verletzten abgeholt haben", erzählt Karimi. "Gott sei Dank wurde nur unser Dach beschädigt." Der in Afghanistan geborene Verkäufer arbeitet seit 20 Jahren auf dem Markt, der bis zum Angriffskrieg durch Russland zu einem der größten seiner Art in ganz Europa zählte. "Ich denke, es werden keine Leute mehr kommen, es wird keinen Umsatz mehr geben, wir werden schließen", sagt er. "Und viele Leute, die hier gearbeitet haben, haben Angst, sie kommen nicht mehr hierher, um zu arbeiten." Karimi denkt noch immer nicht an Flucht, er werde seinen Laden renovieren. Doch er weiß nicht, wie er sich und seine Familie über Wasser halten soll.

90 Prozent laufen Gefahr, in die Armut abzurutschen

Mit den permanenten Attacken auf Charkiw gelingt es den russischen Truppen zwar nicht, die Stadt einzunehmen, oder den Widerstandswillen zu brechen. Aber sie machen eine Rückkehr zur Normalität unmöglich. Aus der einst zweitgrößten Stadt der Ukraine sind seit dem 24. Februar laut offiziellen Angaben etwa 800.000 Menschen geflohen. Bis vor einem halben Jahr war Charkiw für seinen IT-Sektor bekannt und ein beliebter Studienort für junge Menschen aus der ganzen Welt. Heute liegen die Businessdistrikte brach, Vermietern fehlen die Einnahmen, und die Schlangen, die sich bei den Essensausgaben bilden, werden nicht kürzer. Laut den Vereinten Nationen laufen mittlerweile 90 Prozent der ukrainischen Bevölkerung Gefahr, in die Armut abzurutschen. In Charkiw sprechen viele von einer ökonomischen Zeitbombe.

Kaum ein Haus in Saltiwka ist verschont geblieben.
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Besonders groß ist die Not in Saltiwka, wo bis zum Krieg mehr Menschen als in Mariupol lebten. Kaum ein Haus ist verschont geblieben, kein anderer Stadtteil hat so sehr gelitten. Irina und Aleksandr, beide in ihren Fünfzigern, stehen mit Tränen in den Augen vor dem zehnstöckigen Betongebäude, in dem sie vor Jahren ein Apartment für ihre Tochter Maria gekauft haben. Die Außenmauer schwarz von den Explosionen, ein Teil des Gebäudes in Trümmern. Maria ist im März in die Niederlande geflüchtet, erzählt Aleksandr. Seitdem hat niemand die Wohnung gesehen – oder das, was davon übriggeblieben ist. Mit zitternden Händen öffnet er die Metalltür, seine Frau folgt ihm. "Oh Gott", schluchzt sie immer wieder, während sie vorsichtig die Treppen hinaufgeht. Kabel hängen von der Decke, auf dem Boden haben sich Pfützen gebildet, nachdem Sturmregen am Vorabend ungehindert durch die kaputten Fenster hereinpeitschte. Eine tote Ratte liegt auf der Treppe. "In welchem Stock sind wir?" fragt Irina ängstlich. "Ich finde das Schild nicht", antwortet Oleksandr und leuchtet mit der Kamera seines Smartphones über die Wände.

Zurück bleiben die Mittellosen

Endlich der achte Stock, in dem sich die Gänge genauso unheimlich verlassen ausbreiten wie in den anderen, ohne Strom und fließendes Wasser, es riecht verbrannt und modrig. "Die Wohnung war unser Hochzeitsgeschenk für Maria", sagt Aleksandr. Vor der Eingangstür, auf der Maria eine Nachricht für die Nachbarn hinterlassen hat – mit ihrer Telefonnummer und der Bitte, dass sich jemand bei ihr melden soll –, holt Aleksandr tief Luft, dreht den Schlüssel im Schoss um und tritt ein. Zerbrochene Fenster, zertrümmertes Geschirr, tote Pflanzen. "Maria hat die Wohnung erst renovieren lassen", sagt Irina und beginnt, die Möbel irgendwie zurück an ihren Platz zu stellen. Im Kinderzimmer liegen die Spielsachen der Enkelin. "Es hätte schlimmer sein können", sagt Aleksandr. Er versucht die Fassung zu wahren. Doch er weiß, dass das Haus unbewohnbar ist, abgerissen und neu aufgebaut werden muss. Nach einem kurzen Besuch sperren die beiden sorgfältig ab, aus Angst vor Plünderern. "Wir müssen das jetzt irgendwie unserer Tochter beibringen", sagt Irina.

Aleksandr auf der Suche nach der Wohnungstür seiner Tochter.
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Teile Saltiwkas gleichen einem dystopischen Ort, weniger als zehn Prozent der Bevölkerung sind geblieben, darunter vor allem Pensionisten, die von umgerechnet 100 Euro im Monat leben. Einer von ihnen ist Leonid Bozhko, der der ausländischen Presse mit Argwohn begegnet. "Was machen Sie hier?", fragt der 71-jährige. Die Angst vor russischen Spioninnen und Saboteuren ist groß. Bozhko sitzt auf einem Hocker vor dem Eingang zu seinem Haus. Neben ihm fein säuberlich gestapelt das Brennholz, das er in den vergangenen Wochen, als es hier weder Strom noch fließend Wasser gab, zum Kochen verwendet hat. Er zeigt seine Hand, an der drei Finger fehlen. "Deshalb habe ich mich nicht der Armee angeschlossen", sagt er. Immer dann, wenn das Donnern der Explosionen in der Ferne zu hören ist, erklärt Bozhko mit einem Lächeln: "Keine Sorge, das gerade waren unsere Soldaten."

"Wir sind jeden Tag im Einsatz"

In den ersten Monaten des Krieges gelang es den russischen Streitkräften, Charkiw beinahe einzukesseln. Anfang Mai verkündete die ukrainische Armee, dass die russischen Truppen weitgehend aus der Oblast zurück in das im Norden angrenzende russische Territorium gedrängt wurden, hinter den Fluss des Siwerskyj Donez zurück. Doch der Beschuss hört nicht auf, und der Flug der Raketen, die aus der russischen Stadt Belgorod abgefeuert werden, beträgt noch immer lediglich eine Minute, sagt Polizist Ruslan Ponomarow. Er steht an einem der Straßen-Checkpoints in Saltiwka neben Betonklötzen und Panzerbarrikaden aus Metall und kontrolliert die vorbeifahrenden Autos. "Wenn der Luftalarm losgeht, versuchen wir in Deckung zu gehen. Denn man weiß nie, wo die Raketen einschlagen werden", sagt der 31-Jährige. "Wir nennen es russisches Roulette, so klischeehaft es auch klingt. Aber die Raketen können überall einschlagen."

Leonid Bozhko vor seinem Haus in Saltiwka.
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Noch immer sind die meisten Geschäfte in Charkiw geschlossen, Bars und Restaurants haben weitgehend dichtgemacht, und jene, die geöffnet sind, werden von Männern, die Waffen tragen, freiwilligen Helferinnen und Journalisten besucht. Auf dem Parkplatz vor dem Bahnhof stehen die Autos seit Februar. Die Besitzer – wahrscheinlich in Europa. Die Ausgangssperre beginnt abends um 22 Uhr. Aber auch tagsüber fühlt es sich so an, als bewegten sich die Menschen auf Zehenspitzen, immer auf der Hut vor neuen Anschlägen. Die Zeiten, in denen sich die Bewohner sicher fühlen konnten, sind vorbei. Das Regime in Russland erklärt immer wieder, dass es seine Ambitionen, den Oblast einzunehmen, nicht aufgeben wird. "Das Frustrierende für uns ist, dass wenig über Charkiw geredet wird. Wir sind hier genauso in Schwierigkeiten wie die Menschen in Mykolajiw im Süden", sagt Polizist Ponomarow. "Wir sind an der Frontlinie, seitdem es den Krieg gibt. Wir sind jeden verdammten Tag im Einsatz." (Daniela Prugger aus Charkiw, 4.8.2022)