Julian Reichelt sieht den "Swimmingpool des kleinen Mannes", wie er Freibäder nennt, durch Migration bedroht und schließt mit "Danke, Merkel". In seinen Videos streut der Ex-"Bild"-Chefredakteur antiislamische Vorurteile und wettert gegen "die da oben".

Screenshot Achtung, Reichelt / DER STANDARD

Julian Reichelt ist in der Öffentlichkeit zurück. Nach seinem spektakulären Rauswurf bei der "Bild"-Zeitung wegen angeblichen Machtmissbrauchs im Zusammenhang mit einvernehmlichen Beziehungen mit Mitarbeiterinnen hat der 42-Jährige bei Youtube eine neue Heimat gefunden. Dort verbreitet Reichelt Verschwörungsideologien, pöbelt gegen die deutsche Regierung sowie alles, was er als "woke" identifiziert, und redet den Untergang Deutschlands und die Kältediktatur herbei.

Die da oben

Ausgefeilte Rhetorik ist nicht Reichelts Sache, er bevorzugt eher simple Sprachbilder: "Wir" gegen "die da oben", David gegen Goliath, Klein gegen Groß. Reichelt fühlt sich auf der Seite des einfachen Volkes, das sich gegen eine Elite auflehnen muss, die mit gepanzerten Limousinen oder im Privathubschrauber den Kontakt zur echten Welt verloren hat.

Dabei bleibt die herrschende Oberschicht in Reichelts Videos meist namenlos. "Sie" muss als Bezeichnung ausreichen. Selbst vor Attacken gegen die Kinder der vermeintlichen Elite, also der deutschen Spitzenpolitik, schreckt der ehemalige "Bild"-Chefredakteur nicht zurück: "Freibäder spielen in der Politik keine Rolle mehr, weil die Kinder von Politikern nicht mehr ins Freibad gehen." Sie hätten Freunde mit Pools, sie fliegen im Privathubschrauber nach Sylt, und "aus der Luft sind die Freibäder nur kleine blaue Flecken mit Wiese und Ameisengewusel drumherum", so Reichelt.

Das liegt laut Reichelt daran, dass Deutschland von kinderlosen Kanzlern regiert wird, dabei sind die Freibäder "der Swimmingpool des Volkes und das Meer des kleinen Mannes". Immer weniger Menschen könnten sich den Urlaub leisten, so Reichelt, was dazu führe, dass mehr Menschen ins Freibad gehen, wo aber wiederum eingewanderte Horden aus gewaltbereiten Sexualverbrechern nur darauf warteten, anständige Deutsche zu verfolgen. "Was sie dort erleben, ist Sprengstoff", erklärt Reichelt. Schlusssatz: "Danke, Merkel."

Großes Vorbild Fox News

Neu ist dieses Konzept nicht: Das Studiobild, die Inserts und die Aufmachung der Videos erinnern stark an die Sendung von Tucker Carlson vom US-Sender Fox News. Reichelts US-Vorbild ist ebenfalls stark in der verschwörungsideologischen Szene verankert und verbreitet in seiner als politischer Kommentar getarnten Sendung Falschinformationen über Einwanderer, den Ukraine-Krieg, die Pandemie oder den Sturm auf das US-Kapitol. Reichelt hat das Konzept kopiert und sogar den Sprachduktus von Carlson übernommen.

Dabei ist der ehemalige Journalist erst seit kurzem erfolgreich. Nach seinem Rauswurf bei der "Bild" wegen mutmaßlicher Affären versuchte Reichelt mit seinem Instagram-Kanal an seine gewohnte Reichweite heranzukommen. So stand er vor einer Tankstelle und machte im Motorenlärm die deutsche Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel für die von Reichelt ausgemachte Finanzierung russischer Bomben verantwortlich. Der Erfolg war eher bescheidener Natur. Auch die ersten Videos von "Achtung, Reichelt!" erreichten nur wenige Tausend Seher. Der 42-Jährige versuchte es mit Videos über "importierten Antisemitismus" (ein antiislamischer Code), Corona-Impfung und die Russland-Nähe mancher deutscher Politiker. Nichts hob wirklich ab.

Reichelts Glück: Inflation und Energiekrise

Doch dann kam die Inflation, die Energiekosten stiegen, und Reichelt hat seine Nische gefunden: das Narrativ des kleinen Mannes gegen "die da oben" bis hin zur wenig subtilen Politikerbeschimpfung. Ein Beispiel: In der Eröffnung seines jüngsten Videos zeigt Reichelt ein Bild des deutschen Wirtschaftsministers Robert Habeck in weißem T-Shirt und mit zerzausten Haaren. "Der Fotobeweis ist da. Robert Habeck, unser Wirtschaftsminister, hält sich tatsächlich an die eigenen Energiesparregeln und duscht deutlich weniger."

In der Tonart geht es in dem Kanal weiter: "Blackout: Scholz, Kanzler der Kerzen" oder "Grüne verlangen allen Ernstes: Deutsche sollen im Müll wühlen" oder "Grüne wollen Bananen-Stasi", titelt Reichelt. "Sie hassen zum Beispiel die Kraftwerke, die unseren Wohlstand wahren und unsere Kinder wärmen", sagt Reichelt, nur um nachher 15 Minuten lang über die Chefin der deutschen Grünen, Ricarda Lang, herzuziehen. Sogar Langs Figur kommentiert Reichelt. "Sie setzt sich dafür ein, dass jeder Körper als schön empfunden wird, egal wie viele Kilos oder Falten er zählt. Kein einziges Leben in Deutschland wird besser, weil Ricarda Lang ihrem Körper positiv gegenüber eingestellt ist." Dann schwenkt Reichelt gleich wieder um auf Untergangsszenarien: Die Wirtschaft werde in einem Blackout kollabieren, das Volk werde im Winter frieren.

Damit erreicht Reichelt mittlerweile hunderttausende Menschen. Am 5. Juli hat der Kanal nur 21.100 Abonnenten verzeichnet. Mittlerweile hat sich die Abonnentenzahl beinahe vervierfacht und liegt mit Stand Donnerstag bei knapp 80.000.

"Julian Reichelt ist mit seinem Youtube-Kanal innerhalb des deutschsprachigen verschwörungsideologischen Milieus auf Telegram populär. Dies mag daran liegen, dass er das Milieu mit aktuellem Material über eine drohende Apokalypse Deutschlands beliefert und ein dort schon vorhandenes Feindbild pflegt: die Regierung als Teil einer Machtelite und besonders Politiker:innen der Partei Die Grünen", erklärt Jan Rathje vom Center für Monitoring, Analyse und Strategie (CeMAS) gegenüber dem STANDARD. CeMAS bündelt als gemeinnützige Organisation interdisziplinäre Expertise zu Themen wie Verschwörungsideologien, Antisemitismus und Rechtsextremismus.

Hauptsache gegen "woke"

Reichelts Mitarbeiter müssen Gleichgesinnte sein. "Jeden Tag Spaß in Deutschlands unWOKEster Redaktion und Konferenzen, die oft so lustig sind, dass man sie eigentlich live übertragen müsste", schreibt Reichelt bei seiner Mitarbeitersuche auf der Plattform Linkedin. Weiters verspricht er "eine Arbeitsatmosphäre mit Kolleginnen und Kollegen, bei der Du keine Lust mehr auf Homeoffice hast". Billard, Tischtennis, Obstkorb, Hafermilch und Freigetränke soll es auch geben. Eine ehemalige Kollegin von der "Bild" hat jedenfalls schon angebissen: Judith Sevinç Basad. Die Journalistin hat im Juni öffentlichkeitswirksam gekündigt, indem sie einen offenen Brief verfasste, in dem sie Axel Springer und Vorstandschef Mathias Döpfner vorwirft, "vor der unerträglichen Tyrannei der woken Aktivisten eingeknickt" zu sein.

Grundsätzlich problematisch

Reichelt ist aber nicht wie andere ehemalige Journalisten wie Ken Jebsen, Eva Hermann oder Burkhard Müller-Ullrich ins verschwörungsideologische Milieu abgedriftet, so der CeMAS-Experte. "Julian Reichelt verbreitet vor allem rechtspopulistische Inhalte auf seinem Kanal und nimmt Verschwörungsideolog:innen in Schutz. Er scheint aber kein verschwörungsideologisches Weltbild ausgebildet zu haben", sagt Rathje. Aber: "Es bleibt abzuwarten, wie er seine Inhalte weiterentwickeln wird. Er scheint gerade zu experimentieren, um sein Publikum und dessen Präferenzen zu finden. Beispielsweise zeigt sich auf seinem Kanal, dass das Thema des russischen Angriffskriegs nicht gut ankommt."

Ist Reichelt also bloß ein "harmloser" Rechtspopulist auf der Suche nach einem breiten Publikum? Rathje widerspricht: "Reichelt verbreitet mit seinem Kanal rechtspopulistische Positionen, befördert das Image des bedrohten Deutschen und apokalyptische Untergangsszenarien mit vermeintlich klaren Schuldigen. Dies halte ich grundsätzlich für problematisch."

Gegenwind bekommt Reichelt aktuell ausgerechnet auf Telegram. Dort hat der Kanal "Julian Reichelt Official" rund 11.400 Follower. Betrieben wird er aber nicht von dem Ex-Journalisten, sondern von dem Onlinekollektiv Anonymous. Der Zweck: die satirische Abrechnung mit Julian Reichelt. (Peter Zellinger, 5.8.2022)