Gefährdung der Zivilbevölkerung und Bruch des humanitären Völkerrechts: Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International erhebt schwere Vorwürfe gegen die Ukraine. Einem am Donnerstag publizierten Bericht zufolge soll die Armee des Landes Militärbasen in Wohngebieten mehrerer großer Städte eingerichtet und dort Waffensysteme zum Beschuss russischer Positionen installiert haben. Dies sei aber keine Rechtfertigung für russische Kriegsverbrechen, betont Amnesty International.

Auch in dieser Woche litt die Bevölkerung der südukrainischen Stadt Mykolajiw unter starkem Beschuss durch die russische Armee.
AP/Kostiantyn Liberov

Der Bericht, der auf Recherchen zu russischen Raketenangriffen auf ukrainische Städte basiert, spricht von einem klaren "Muster" im Vorgehen der ukrainischen Armee, das die Zivilbevölkerung gefährde. "Das Militär war im Nachbarhaus untergebracht, mein Sohn hat ihnen oft Essen gebracht", wird die Mutter eines 50-jährigen Todesopfers zitiert. "An dem Nachmittag, als die Rakete einschlug, war er gerade im Hof, ich selbst war drinnen. Er war sofort tot, sein Körper wurde in Stücke gerissen. Unser Haus wurde zum Teil zerstört."

Berichte aus 19 Städten

Augenzeugenberichte wie dieser, die Beobachter von Amnesty International vor Ort sammelten, bilden das Fundament des Reports, hinzu kommen weitere Quellen wie Videos oder Fotos, die Amnesty International aus der Ukraine erreichen. "Zur Verifizierung vergleichen wir diese dann mit Satellitenbildern und anderer öffentlich zugänglicher Information wie zum Beispiel Wetterberichten und Straßendaten", erklärt ein Vertreter von Amnesty International auf Nachfrage des STANDARD.

Die Vorwürfe beziehen sich konkret auf Vorkommnisse in 19 Städten und Ortschaften in den Regionen Charkiw, Donbass und Mykolajiw. Bislang unbestätigte Berichte soll es auch aus anderen Städten geben. Laut Amnesty International stellt das Vorgehen einen Bruch des humanitären Völkerrechts dar.

Truppen in Schulen und Spitälern

Dieses besagt, dass in Kriegsgebieten der Schutz der Zivilbevölkerung durch beide Seiten gewährleistet werden muss. Truppen wie auch Waffensysteme müssen deshalb soweit möglich außerhalb dichtbesiedelter Gebiete stationiert werden, damit zum Beispiel Wohnhäuser nicht zum Ziel von Raketenschlägen werden können.

Besonders brisant ist, dass die Ukraine laut Amnesty International ihre Truppen zum Teil sogar in Schulen und Krankenhäusern untergebracht haben soll. Russland hatte im Laufe des Krieges immer wieder auch derartige Einrichtungen beschossen und darauf verwiesen, dass man keine zivilen Ziele, sondern dort stationierte Soldaten beschieße. Auch in sozialen Medien wurden zum Beispiel Fotos von ukrainischen Soldaten in Schulturnhallen verbreitet und zur Legitimierung der Angriffe genutzt. Ob diese Aufnahmen tatsächlich während des russischen Angriffskriegs oder etwa bei früheren Übungen entstanden sind, lässt sich nicht überprüfen.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj warf Amnesty vor, die Menschenrechtsorganisation verlagere die Verantwortlichkeit vom Aggressor auf das Opfer. Wer einen solchen Zusammenhang herstelle, "muss sich eingestehen, dass er damit Terroristen hilft", sagte Selenskyj in einer Videoansprache am Donnerstagabend. "Jeder Versuch, das Recht der Ukrainer infrage zu stellen, sich dem Völkermord zu widersetzen, ihre Familien und Häuser zu schützen", sei eine "Perversion", schrieb der ukrainische Verteidigungsminister Olexij Resnikow auf Facebook.

"Keine Rechtfertigung russischer Kriegsverbrechen"

Gegenüber dem STANDARD betonte Amnesty International, dass die Vorwürfe gegen die Ukraine in keiner Weise eine Rechtfertigung der russischen Attacken darstellen würden. "Nicht jeder russische Angriff, den Amnesty International seit Beginn des Konflikts dokumentiert hat, erfolgte im Rahmen dieses Musters", heißt es von der Menschenrechtsorganisation.

"In manchen zivilen Gebieten, die Russland attackiert hat, fanden wir keine Beweise für die Anwesenheit ukrainischer Truppen, was die Angriffe zu potenziellen Kriegsverbrechen macht. In anderen Fällen wiederum rechtfertigte die Präsenz nicht das unverhältnismäßige und willkürliche Vorgehen der russischen Seite."

Ukraine bemüht um Evakuierung

Was der Report von Amnesty International allerdings nicht anspricht, ist der Umstand, dass die Ukraine sich durchaus um die Evakuierung der Zivilbevölkerung bemüht hat und das auch weiter tut. Im März etwa versuchten ukrainische Vertreter mit Russland Fluchtkorridore für im Frontgebiet lebende Menschen auszuhandeln.

Am Dienstag begann die ukrainische Regierung mit der Evakuierung der Zivilbevölkerung aus der schwer umkämpften Region Donbass.
AP/David Goldman

Laut ukrainischen Angaben sei die Evakuierung etwa aus der mittlerweile von Russland fast völlig zerstörten Stadt Mariupol aber von möglichen russischen Provokationen erschwert worden. Erst kürzlich, am Dienstag, begann die ukrainische Regierung die Evakuierung von Zivilistinnen und Zivilisten aus dem Donbass, wo schwere Kämpfe bis Herbst erwartet werden.

Bericht in Russland ausgeschlachtet

Das betonte auch der Stabschef des ukrainischen Präsidenten, Mihajlo Podoljak, auf Nachfrage von Journalistinnen und Journalisten. Laut der ukrainischen Nachrichtenagentur Unian sagte er außerdem, man sehe in den Berichten über angebliche Verstöße ukrainischer Soldaten eine "Informationskampagne zur Diskreditierung der Streitkräfte". Aus dem Verteidigungsministerium hieß es hingegen, bei Vorlage von Fakten sei man bereit, diesen nachzugehen.

Russische Medien instrumentalisierten den Bericht ihrerseits, ohne auf die darin wiederholten Vorwürfe gegen die eigene Armee, unter anderem Charkiw mit vielerorts verbotener Streumunition beschossen zu haben, hinzuweisen.

Stattdessen implizierte zum Beispiel die Nachrichtenseite RBK durch die in Russland sehr ungewöhnliche Nennung einer Schätzung der Vereinten Nationen, der zufolge mehr als 5.200 Zivilisten seit Kriegsbeginn zu Schaden gekommen sein sollen, eine alleinige Schuld der Ukraine an den zivilen Opfern.

"Nicht der Voreingenommenheit schuldig machen"

Folgt man dem Amnesty-Bericht, ergibt sich ein anderes Bild: Dieser wirft der Ukraine die Gefährdung der eigenen Bevölkerung vor, betont gleichzeitig aber das völkerrechtswidrige Vorgehen der russischen Seite. Die Grausamkeit und Unverhältnismäßigkeit der russischen Angriffe auf Städte wie Mariupol oder Charkiw bleibt unbestritten und wird in dem Text explizit betont.

Trotzdem seien Berichte über das Vorgehen der ukrainischen Seite nötig. "Würden wir über ukrainische Vergehen, die wir festgestellt haben, schweigen, würden wir uns selbst der Voreingenommenheit schuldig machen. Wir würden auch die vielen Zivilistinnen und Zivilisten, die infolge dieser Praktiken Angehörige verloren haben oder selbst getötet oder verletzt wurden, im Stich lassen", wurde dem STANDARD von der Organisation mitgeteilt. Alle Stellungnahmen würden aber im Kontext der "fortwährenden Verurteilung der russischen Invasion" getätigt. (Thomas Fritz Maier, 4.8.2022)