Vom chinesischen Festland aus flogen die Raketen über die 180 Kilometer breite Wasserstraße in die unmittelbare Nähe Taiwans. Das geschah zuletzt Mitte der 1990er-Jahre.

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Drohgebärden sind eine Sache, mindestens elf Raketen über den Köpfen von mehr als 20 Millionen Menschen in Taiwan dann aber doch noch einmal eine andere. Nur Stunden nachdem die Vorsitzende des US-Repräsentantenhauses Nancy Pelosi Taiwan verlassen und ihre Asienreise in Südkorea fortgesetzt hatte, begann die Volksrepublik China mit ihrer "Kampfübung" gegen die östlich des Festlandes liegende Insel Taiwan.

Mehreren Verletzungen der Medianlinie, welche die vertraglich nicht ratifizierten, historisch aber respektierten De-facto-Hoheitsbereiche zwischen Peking und Taipeh absteckt, folgten Raketen, welche Taiwan überflogen, um nordöstlich und südwestlich der Insel im Meer einzuschlagen, laut Japan auch in dessen ausschließlicher Wirtschaftszone. Taiwans Außenministerium bezichtigte China deshalb nordkoreanischer Methoden.

Bis Sonntag soll dem Vernehmen nach eine etwaige Blockade der Insel geprobt und womöglich Szenarien für Landungsmanöver ausgeklügelt werden. Westliche Analysten werden interessiert das Zusammenspiel der chinesischen Luft- und Seestreitkräfte beobachten. Vor allem auch, weil die seit der letzten Taiwan-Krise Mitte der 1990er-Jahre rundum modernisierte Marine Chinas bisher kaum aktiv getestet wurde.

Überlegene USA

Um das komplexe Zusammenspiel der Teilstreitkräfte – die sogenannte Interoperabilität – ginge es freilich auch in Taiwan. Generalmajor Bruno Günter Hofbauer vom österreichischen Bundesheer betont im STANDARD-Gespräch, dass "solch amphibische Operationen generell die schwierigsten Aufgaben sind, die man Streitkräften stellen kann". In diesem Punkt seien die USA allen chinesischen Aufholjagden zum Trotz immer noch weit überlegen, auch weil von China bisher keine massiven Übungen in diese Richtung zu beobachten waren.

Manche Analysten sprechen gar von einem jahrzehntelangen Vorsprung der US-Streitkräfte, weshalb die USA in jeder Analyse der Verteidigungschancen Taiwans vorkommen. Dennoch glaubt Generalmajor Hofbauer, dass sich die moderne taiwanesische Armee einer ersten Angriffswelle auch eigenständig entgegenstellen könnte.

Keine Ukraine-Blaupause

Die Frage, ob und wie direkt Washington in einen heißen militärischen Konflikt zwischen China und Taiwan eingreifen würde, verändert freilich alle Parameter. Prinzipiell gilt in der Taiwan-Frage die "strategische Ambiguität". Man hält sich offen, ob Taiwan mit der geballten Macht der US-Streitkräfte verteidigt wird. Die Aussagen der vergangenen Tage und Monate – auch von US-Präsident Joe Biden Ende Mai – deuten aber darauf hin, dass Taiwan sicher nicht alleingelassen würde.

Die USA könnten mit ihren Flugzeugträgerkampfgruppen die chinesischen Marineverbände – die mit 355 Kriegsschiffen und U-Booten numerisch größten Seestreitkräfte der Welt – mindestens kontern, auch wenn China fleißig an seinen als "Flugzeugträgerkiller" bekannten Mittelstreckenraketen namens Dongfeng DF-26 arbeitet.

Wasserstraße als Schutz

Ohnehin hat der Ukraine-Krieg zuletzt aber auch gezeigt, dass Verteidigen einerseits viel einfacher als Angreifen ist. Vor allem aber, dass man mit einer modernen Ausrüstung, mit Mehrfachraketenwerfern à la Himars, infrarotgelenkten Flugabwehrraketen vom Typ Stinger oder Neptun-Schiffsabwehrraketen, einem scheinbar übermächtigen Gegner immens viel Schaden zufügen kann.

Und dann komme eben noch die 130 bis 180 Kilometer breite Wasserstraße von Taiwan hinzu, sagt Generalmajor Hofbauer. Eine Luftherrschaft in diesem Bereich zu schaffen, die beiden Flanken abzuriegeln, etwaige Seeminen, die eine Landung verunmöglichen sollen, zu räumen und dann auch noch mögliche Angriffe unterhalb des Meeresspiegels, zum Beispiel durch US-U-Boote, abzuwehren, dazu sieht er China aktuell noch nicht imstande.

Während Russland die Militärübungen verteidigt, verurteilten die USA jeden Versuch, den Status Taiwans einseitig zu ändern. (Fabian Sommavilla, 4.8.2022)