Er galt international als einer der renommiertesten Zeithistoriker, wurde von Kollegen gern als "Doyen der Holocaustforschung" bezeichnet – und doch ist Raul Hilberg (1926–2007) die öffentliche Anerkennung in Österreich erst spät und nur bedingt zuteilgeworden.

So war es. Genau so! Bis heute ist wenigen bekannt, dass der 1939 aus "seiner" Stadt vertriebene Raul Hilberg aus Wien-Brigittenau stammt.
Foto: AP Photo / University of Vermont, Owen Stayner

Bis heute, 15 Jahre nach seinem Tod, ist nur wenigen bekannt, dass der einflussreiche Wissenschafter eigentlich aus Wien-Brigittenau stammt. Das gründerzeitliche Mietshaus, in dem er aufwuchs, Wallensteinstraße 9 / Ecke Treustraße, existiert noch. Auf dem Apartmenthaus mit türkischer Bäckerei im Erdgeschoß finden sich allerdings keinerlei Hinweise auf das Schicksal der früheren Bewohner.

Bescheidener Wohlstand

Hilbergs Eltern waren einst von Galizien nach Wien gekommen und hatten sich, wie viele jüdische Zuwanderer, auf der "Mazzesinsel" niedergelassen. Der Vater arbeitete als Zwischenhändler für Haushaltswaren; man war religiös, aber nicht streng orthodox, lebte in bürgerlichen Verhältnissen einen bescheidenen Wohlstand.

Die geräumige Wohnung lag im zweiten Stock, Wasser und Toilette auf dem Gang, vier Zimmer, die mit Telefon, Radio und Kühlschrank ausgestattet waren, und eine Bibliothek, in der die Werke Goethes, Heines und Dostojewskis standen.

Ein Hausmädchen half bei der Hausarbeit. Raul, das einzige Kind, besuchte das nahegelegene Chajes-Gymnasium, in der Freizeit zog es ihn zum Donaukanal oder in den Augarten. Im Sommer verreiste die Familie regelmäßig mit der Eisenbahn. Die Leidenschaft fürs Zugfahren und die dazugehörige Logistik sollte Raul zeitlebens behalten; sie fand später auch in seinen wissenschaftlichen Arbeiten ihren Niederschlag.

Beschimpfungen und Drangsalierung

Bisweilen besuchte die Familie auch das im Erdgeschoß des Wohnhauses gelegene Café Treuhof, ein alteingesessenes Vorstadtlokal, seit den 1920er-Jahren für seine regelmäßigen Schachturniere bekannt. Der Arbeiterschachbund hatte hier seinen Sitz, ebenso der jüdische Frauen-Wohltätigkeitsverein.

Bis mit dem "Anschluss" Österreichs alles anders wurde. Für den jungen Raul Hilberg, wie für viele andere in der Nachbarschaft, ein existenzieller Bruch, wie er Jahre später in seinen Erinnerungen festhielt: "Die Juden rückten zusammen, atmeten die verhängnisvolle Luft und ahnten, was ihnen blühte, wenn sie nicht rechtzeitig auswanderten. ‚Hitler wird uns an die Wand stellen‘, sagte mein Vater. Meine Kindheit war mit einem Schlag beendet."

In der Wallensteinstraße machten sich die Veränderungen mehr als deutlich bemerkbar. Die Auslagen jüdischer Geschäfte wurden beschmiert, Betriebe wurden beschlagnahmt und "arisiert", gewalttätige Übergriffe auf die jüdische Bevölkerung waren an der Tagesordnung.

Im Café Treuhof musste Friederike Kaiser, die jüdische Inhaberin, Beschimpfungen und Drangsalierungen ihrer Gäste hilflos miterleben. Hilbergs Vater wurde verhaftet. Vor der Deportation nach Dachau bewahrte ihn nur sein Veteranenstatus – er war Soldat im Ersten Weltkrieg gewesen–, weswegen man ihn nach kurzer Gefangennahme wieder freiließ.

Mehrmonatige Wartezeit

Die Wohnung war inzwischen beschlagnahmt worden. Raul und seine Mutter mussten sie räumen. Zuflucht fanden sie bei Freunden, doch schon bald war klar, dass es in Wien keine Zukunft mehr gab. Der Vater schien seelisch gebrochen, auch wirtschaftlich, denn sein Geschäft kam fast völlig zum Erliegen. Die Hilbergs bereiteten die Ausreise vor. Man entschied sich für die USA, konkret New York, wo Verwandte der Mutter lebten.

Am 1. April 1939 fuhr die dreiköpfige Familie mit dem Zug nach Frankreich. Nach einem einwöchigen Aufenthalt in Paris erreichte sie den Hafen von La Rochelle, wo die Überfahrt nach Kuba begann. Es folgte eine mehrmonatige Wartezeit in Havanna, ehe der 13-jährige Raul die Erlaubnis für die Einreise nach New York erhielt; seine Eltern kamen einige Zeit später nach.

Typisches Einwandererschicksal

Es war ein typisches Einwandererschicksal, das die Hilbergs im Exil erwartete. Um über die Runden zu kommen, mussten zunächst alle drei eine Fabriksarbeit annehmen. Im Brooklyner Stadtteil Kensington fanden sie eine kleine Wohnung.

Raul verbesserte seine Sprachkenntnisse und setzte die Schule fort. Sobald er 18 Jahre alt geworden war, meldete er sich zum Militärdienst, um gegen das Deutsche Reich zu kämpfen. Die dafür notwendige amerikanische Staatsbürgerschaft erhielt er im Dezember 1944. Knapp drei Monate später setzte Raul Hilberg als Soldat erstmals wieder einen Fuß auf europäischen Boden.

Sein Regiment wurde in Bayern eingesetzt und befreite dort das Konzentrationslager Dachau; er selbst kehrte nach Kriegsende in die USA zurück. Am Brooklyn College sowie später an der Columbia University begann er Geschichte, Recht und Politik zu studieren.

Längst war ihm die schreckliche Realität klar geworden: der Massenmord an den Juden Europas. Auch seine in Polen lebenden Verwandten waren nicht verschont geblieben, darunter Großeltern, Onkeln, Tanten und deren Kinder.

Gewaltiges Ausmaß der Auslöschung

Das zunehmende Wissen um das gewaltige Ausmaß dieser Auslöschung floss ein in seine wissenschaftliche Arbeit, die in der Abfassung einer mehr als tausendseitigen Dissertation mündete: The Destruction of the European Jews. 1961 publiziert, legte Hilberg darin erstmals die bürokratische Logistik der planmäßigen Tötungsmaschinerie Nazideutschlands dar.

Ein epochales Werk, dessen Wirkung sich allerdings nur langsam entfaltete. Nicht zuletzt, weil es – für viele ungehörig – die Täterperspektive fokussierte. Erst einundzwanzig (!) Jahre später wurde es dann auch auf Deutsch übersetzt.

Der stets sachlich und analytisch vorgehende Autor hatte mittlerweile längst eine Professur an der Universität in Burlington, Vermont, inne, wo er viele Jahrzehnte erfolgreich lehrte und forschte, letztlich bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1991. Noch zahlreiche andere Bücher entstanden, Hilbergs Hauptwerk blieb jedoch das obengenannte, von ihm noch mehrmals aktualisierte Buch, bis heute ein Standardwerk zur Geschichte des Holocaust.

Shoah

Einer breiten Öffentlichkeit wurde Hilberg hierzulande durch die aufrüttelnde Filmdokumentation Shoah (1985) bekannt. Claude Lanzmann zeigt darin keine Archivbilder, sondern ausschließlich Interviews mit Zeitzeugen sowie die Schauplätze der Vernichtung, wie sie sich vierzig Jahre danach präsentierten.

Dazu Aufnahmen von Güterzügen und Eisenbahnstrecken, also jener Transportlogistik, die Hilberg minutiös recherchiert hatte. Er kommt sodann auch als einziger Experte zu Wort. Dabei spricht er langsam und klar, legt eindringlich seine Erkenntnisse dar, jenseits jeden Zweifels. Bestimmt und unerschütterlich schauen wir mit ihm den Tatsachen ins Auge. So war es. Genau so!

Eine Rückkehr nach Österreich stand für Hilberg nie zur Diskussion, wenngleich er Wien mehrere Male für Vorträge besuchte. Und abseits dessen auch auf den Spuren seiner Kindheit wandelte, durch die Wallensteinstraße und zu seinem Elternhaus ging, das er mit gemischten Gefühlen betrat. In seine ehemalige Wohnung gelangte er zwar nicht, aber immerhin in den Gang davor: Wie viel hatte sich seither verändert? Wie hatte er sich seither verändert?

Besuch im Elternhaus

Auch das Lokal im Erdgeschoß war längst ein anderes. 1939 war es "arisiert" worden, Friederike Kaiser (verheiratete Halporn) war inhaftiert und 1943 im KZ Theresienstadt ermordet worden. Neuer Inhaber war Josef Angelmayer, der seit 1920 in der Wallensteinstraße 38 eine Konditorei führte. Mit großem Erfolg, gehörte er doch – trotz kriegsversehrter Hand – zu den führenden Zuckerbäckern der Stadt. Schon 1932 hatte er bei der ersten Wiener Konditorei-Ausstellung auf sich aufmerksam gemacht, fünf Jahre später erhielt er bei der Pariser Weltausstellung eine Medaille.

Die Café-Konditorei Angelmayer etablierte sich am neuen Standort, und – wenngleich es 1949 ein Rückstellungsverfahren gab – sie blieb auch die folgenden Jahrzehnte über an dieser Adresse. Josef Angelmayer avancierte zum Begründer einer kleinen Konditorendynastie, Sohn und Enkel traten in seine Fußstapfen und eröffneten noch zwei weitere Filialen in Wien. Jene in der Wallensteinstraße existierte letztlich bis Mitte der 2000er-Jahre.

Raul Hilberg hatte die Konditorei Angelmayer noch vorgefunden, als er im Herbst 1995 das letzte Mal sein Elternhaus aufsuchte. Die Journalistin Marianne Enigl, verdienstvolle Bewusstseinsbildnerin im Hinblick auf die österreichische Zeitgeschichte, begleitete ihn damals, und beide waren geradezu perplex, dass hinter der Mehlspeisvitrine nach wie vor eine gewisse Frau Grete stand, die seit 1934 (!) hier arbeitete. Auf die Frage, ob sie die Hilbergs kannte, meinte diese, das sei "eine Ewigkeit" her und habe "sich doch alles im 38er-Jahr verloren".

Wien heute

Raul Hilberg gab sich nicht zu erkennen, verspeiste sein Punschkrapferl nur zur Hälfte und verabschiedete sich schweigsam. Seine eigene Geschichte zu erforschen, erinnert sich Marianne Enigl heute, ist für Hilberg nie so sehr im Zentrum gestanden.

Auch eine mögliche Restituierung der elterlichen Wohnung lag ihm fern. Dabei sei er keineswegs verbittert gewesen. Eher darüberstehend, klar und illusionslos sehend, "was Wien ist – bis heute". Im Juni 2006, mit 80 Jahren, war der versierte Redner und Diskutant zum letzten Mal in Wien, Anfang August des Folgejahres verstarb er in den USA.

Die Anerkennung als einer der wichtigsten Wissenschafter auf dem Gebiet der Holocaustforschung war ihm im deutschen Sprachraum spät zuteilgeworden. Erst 2002 hatte er in Deutschland den Geschwister-Scholl-Preis und das Große Bundesverdienstkreuz erhalten und in Österreich die Ehrendoktorwürde der Universität Wien.

Letzteres sollte hierzulande die einzige Würdigung bleiben. Aber vielleicht besinnt sich ja die Stadt Wien ihres großen Sohnes. Eine Gedenktafel wäre rein topografisch gesehen mehr als passend, denn unweit des ehemaligen Wohnhauses gibt es bereits zahlreiche prominente jüdische Erinnerungsorte, unter anderem für Joseph Roth und die Schriftstellerin Else Feldmann.

Die Gedanken und Worte Raul Hilbergs werden jedenfalls noch lange ihre Gültigkeit behalten. Angesichts des immer umfassender und radikaler werdenden NS-Apparates meinte er einmal, dass das Töten nicht mehr so schwer gewesen sei wie in früheren Zeiten. Eine Erkenntnis, die im aktuellen Krieg in Europa wahrer denn je zu sein scheint. (Peter Payer, ALBUM, 6.8.2022)