Eine Aktion der Party of the Dead auf einem St. Petersburger Friedhof. Z-200 steht für das militärische Codewort Cargo 200: den Transport der Toten vom Schlachtfeld.

Foto: Party of the Dead / A. Danilov

Sigmund Freud wurde 1915, nach der ernüchternden Einsicht, dass der Erste Weltkrieg weder schnell enden noch ohne hohe Verluste vonstattengehen würde, von Träumen geplagt. Darin starben seine Söhne, sie fielen im Krieg. Entgegen der (auch aus Freuds eigener Sicht) prophetisch anmutenden Todeswarnungen kehrten die Söhne indes nach Kriegsende wieder heim, während die Tochter Sophie 1920 der Influenza-Pandemie, vulgo Spanische Grippe, zum Opfer fiel.

Die Gleichzeitigkeit von Krieg und Pandemie, von Leben und Tod hat die britische Wissenschafterin Jacqueline Rose vor knapp zwei Jahren in einer Sigmund-Freud-Vorlesung herausgearbeitet – und dabei einen überzeugend argumentierten Bogen von Freuds Erfahrung im Ersten Weltkrieg zur Corona-Pandemie gespannt.

Freud hatte keine Möglichkeit, seine im Sterben liegende Tochter zu verabschieden, weil es schlicht keine Möglichkeit gab, zu ihr zu reisen: Kein einziger Zug fuhr. Dass "der Tod etwas ist, dessen man – als Sterbende:r, aber auch als Angehörige:r – beraubt werden" kann, ist ein Leitmotiv in Roses Analyse.

Sigmund Freud, "Zeitgemäßes über Krieg und Tod. Warum Krieg? Der Briefwechsel mit Albert Einstein". 6,20 Euro / 100 Seiten. Reclam, Ditzingen 2022
Cover: Reclam

Zwei Pandemiejahre später sind ihre Analysen noch immer hochaktuell. Doch es gibt mit dem Angriffskrieg auf die Ukraine einen neuen Referenzpunkt, der Freuds Texte wie Zeitgemäßes über Krieg und Tod oder aber den Briefwechsel über den Krieg mit Albert Einstein noch einmal in seinem ursprünglichen Sinne dringlich und heutig erscheinen lässt.

Entfremdung

Der Krieg führte nach Freud zu einer Entfremdung von der einst vertrauten Welt, weil er das bis dahin so sorgsam reglementierte Verhältnis zum Tod gestört hat: "Wir haben die unverkennbare Tendenz gezeigt, den Tod beiseitezuschieben, ihn aus dem Leben zu eliminieren", schrieb er 1915 in Zeitgemäßes über Krieg und Tod. Im Krieg geht das nicht mehr, der Tod wird plötzlich vorstellbar und gegenwärtig.

Die Zahl der Toten im Angriffskrieg gegen die Ukraine lässt sich kaum ermessen. Mitte Juli vermeldete die UN über 5.000 getötete ukrainische Zivilisten, doch die Dunkelziffer dürfte weitaus höher liegen – und all die gefallenen Soldaten kommen hinzu und erhöhen diese Zahl um ein Vielfaches. Unabhängig überprüfbare Zahlen gibt es bislang nicht. Was in den auf ukrainischen Weizen angewiesenen Ländern geschieht, wenn der Getreideexport lange genug blockiert wird, steht noch einmal auf einem anderen Blatt.

DER STANDARD

Eine weitere nicht zu ermessende Zahl ist die der Kriegsgegner und ihrer Unterstützer in Russland, welche angesichts der Repression durch die Behörden zu ihrem eigenen Schutz fast ausschließlich anonym protestieren. Die zunehmend raren Aktionen im öffentlichen Raum finden häufig erst durch soziale Medien ein großes Publikum – sie müssen rasch und im Verborgenen durchgeführt werden, die Dokumentation auf Fotos und Videos verleiht ihnen Reichweite und Dauer.

Nekroästhetik

Man denke an die im ganzen Land angebrachten kleinen Kreuze, die an die Toten von Butscha erinnern sollten, oder an den Demonstranten, der vor Moskauer Sehenswürdigkeiten mit gefesselten Händen auf dem Boden liegend fotografiert wurde, in Anspielung auf die die brutalen Tötungen von Zivilisten auf der anderen Seite der Grenze. Man denke auch an die in blutverschmierten weißen Kleidern auf der Moskauer Ringstraße demonstrierenden Aktivistinnen.

Auch die Künstlergruppe Party of the Dead verbreitet Fotos und Videos ihrer Aktionen auf Plattformen wie Instagram oder Facebook. Der Tod ist der Ausgangspunkt ihrer Nekroästhetik, er war immer schon da und eilt den Performances und Kunstaktionen des Kollektivs voraus. Diese Umkehr – den Tod als Beginn und nicht als Ende zu begreifen; die Toten nicht einfach als fort, sondern als politische Akteure – macht die künstlerische Arbeit der Totenpartei nicht nur ästhetisch, sondern auch intellektuell aus. Was, wenn den Toten nicht die Vergangenheit, sondern die Zukunft gehören würde?

Künstlergruppe

Gegründet wurde das Kollektiv vor fünf Jahren in Sankt Petersburg. Es versteht sich als größtmögliche politische Partei, denn alle Toten gehören dazu – und eine Handvoll Lebender, die sich den Repressionen der heutigen Zeit ausgesetzt sieht. "Wir nennen das, was wir machen, experimentelle politische Kunst. Als Künstlergruppe fokussieren wir nicht auf die Herstellung von Objekten oder Bildern, im Mittelpunkt unserer Praktiken steht stattdessen die etwas eigenartige ethische oder politische Idee einer Gerechtigkeit, die nicht nur für die Lebenden, sondern auch für die Toten gelten muss", so die Gruppe.

Jacqueline Rose, "Den eigenen Tod sterben". 12,– Euro / 94 Seiten. Turia + Kant, Wien 2021
Cover: Turia + Kant

Wo die Politik tot ist, ist der Tod politisch. Zu Gründungszeiten standen Kritik an postsowjetischer Apathie und Konsumkultur im Mittelpunkt der Aktionen der Party of the Dead. Mit Beginn der Corona-Pandemie konzentrierten sich die Aktionen der Gruppe dann vornehmlich auf deren politische Folgen, während große Bestattungsunternehmen des Landes Begräbnisse per Livestream anzubieten begannen und die Friedhöfe für Besucher geschlossen wurden.

Das Jahr 2020 war in Russland allerdings auch aus anderen Gründen eines für die Geschichtsbücher: Wladimir Putin hat, nach einem Referendum im Juli 2020, durch Verfassungsänderungen seine Macht gesichert. Der bis dahin gültigen Verfassung zufolge hätte er 2024, nach sechzehn Jahren im Amt (Unterbrechungen ausgenommen), nicht weiter kandidieren können, jetzt wurde seine Amtszeit auf null gesetzt und er könnte ganz legal bis 2036 Präsident bleiben.

Maximaler Druck

Der Kampf um Meinungsfreiheit in immer totalitärer werdenden Konjunkturen ging mit einer Umkodierung des öffentlichen Raums einher, der – obwohl Russland verhältnismäßig spät erst Maßnahmen gegen die Verbreitung des Virus ergriffen hat – für aktivistische wie künstlerische Gruppen immer schwerer zu besetzen wurde. Jetzt, im Krieg, wurde der Druck auf Protestierende maximiert.

Jeder, der auch nur ein leeres Blatt hochhält, läuft Gefahr, als "Verräter" verfolgt zu werden. "Unser Aktivismus hat sich in seiner Form nicht verändert, wir protestieren noch immer auf Friedhöfen und tragen Totenkopfmasken, aber alles konzentriert sich nun auf den Krieg. Wir agieren außerdem vermehrt als anonyme Gruppe, besonders, seit in Russland die Zensurgesetze verabschiedet wurden", sagt die Party of the Dead heute.

Allein, den Krieg Krieg zu nennen ist bekanntlich ein Sprechakt, der einen hinter Gitter bringen kann. Die Gruppe, die ihre Botschaften in Form von Transparenten und damit als im engen Sinne sprachliche Äußerungen in die Welt trägt, weiß um das Gewaltpotenzial wie auch die revolutionäre Macht der Sprache.

"Im Grunde ist der Protest gegen den Krieg auch ein Kampf um freie Meinungsäußerung. Dieser Kampf findet auch innerhalb der Sprache und für die Sprache statt, und er ist auch ein kultureller Widerstand gegen die imperialistische und siegreiche ‚große‘ Kultur im Namen der unterdrückten ‚kleinen‘ Kultur(en)."

Stimmen der Toten

Serhij Zhadan, "Warum ich nicht im Netz bin. Gedichte und Prosa aus dem Krieg". Deutsch: Claudia Dathe. 18,50 Euro / 180 Seiten. Suhrkamp, Berlin 2016
Cover: Suhrkamp

Mittlerweile haben manche der Aktivisten das Land verlassen, ein Teil ist geblieben. Schaut man nur die Fotos auf Instagram an, kann man nicht sagen, wo sie aufgenommen wurden; erst die Bildtexte verraten, wo etwa der tote Vogel neben einem Schild mit der Aufschrift "net wojne", kein Krieg, lag: in Sankt Petersburg.

Andere fotografisch dokumentierte Aktionen werden schlicht in Russland verortet, ohne genauere Angaben, und zuletzt gab es auch Bilder aus der georgischen Hauptstadt Tiflis. Schon vor dem Krieg hatten die Aktivisten Unterstützer in ganz Europa, nun sind es noch mehr geworden, auch über Europa hinaus. Die Partei steht allen offen, es gibt keine Mitgliedsanträge. In diesem Irgendwo zwischen Anarchismus, radikal egalitärer Demokratie und Graswurzelbewegung ist noch eine Menge Platz.

Der aus dem Donbass stammende ukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan, jüngst mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet, schreibt: "Ein Mensch, der sich nicht im Visier des Feindes befindet, hat eine andere Atmung und einen anderen Herzschlag. Wenn er die Welt betrachtet, sind weder Feind noch Tod allgegenwärtig." Das ist sehr nah an Freuds Thesen, denen zufolge den Kulturmenschen ihr eigener Tod unter alltäglichen Bedingungen abstrakt und unkonkret bleibt.

Serhij Zhadans Prosa und Lyrik werden aus heutiger Sicht, vergleiche Freuds Traum, gern als prophetisch punziert. Dabei ist er schlicht ein sehr guter Schriftsteller, der die Realität des im Donbass schon seit 2014 nicht endenden Krieges in Worte fasst, die ihn nicht verklären, sondern ihn begreifbarer machen. Er schließt einen seiner – kurz nach der Krimannexion entstandenen – Essays so: "Der Krieg geht irgendwann zu Ende, auch wenn er heute endlos aussieht. Die Städte, die Straßen, die Stimmen bleiben, es bleibt der Wunsch zu reden, der Wunsch zuzuhören."

Es gilt, auch die Stimmen der Toten zu erhalten. Sie hörbar zu machen, die Botschaft hinter dem entsetzlichen Raunen zu entschlüsseln ist eine Übersetzungsleistung, die nun einmal mehr auf der Kunst lastet. Kollektive wie die Party of the Dead nehmen diese Aufgabe ernst. (Jana Volkmann, ALBUM, 6.8.2022)