Die Flucht aus der scheinbaren Enge des Tals ist nicht für alle eine erstrebenswerte Option: Biker in der Nähe von Pfafflar.

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Wenn Ramona zielt, liegt das Gewehr nah an ihrem Auge. Dann pirscht sie sich heran, hält die Spannung kaum aus, will alles perfekt machen. Ihren Mann Christoph hat Ramona ebenfalls beim Jagen kennengelernt: Sie gehört zu den wenigen Frauen, die von außerhalb in die Gemeinde Pfafflar gezogen sind; Einwohnerinnen und Einwohner: 103.

Statistisch gesehen sind es vor allem junge Frauen, die aufgrund fehlender Karrierechancen und unzureichender Kinderbetreuung die Dörfer verlassen. Schon lange ist das ein großes Thema in Österreich, das Talsterben. Redest du mit den Männern aus Pfafflar, sagen die: Die Frauen gehen zum Studieren nach Innsbruck. Die Frauen ziehen mit ihrem Erbe nach Wien. Die Frauen sind schuld, dass das Tal stirbt. Aber dass das nicht die ganze Wahrheit ist, werden die folgenden Zeilen beweisen.

Jeden Morgen um sieben klingeln die Kirchenglocken in Boden. Bald soll die Orgel für rund 60.000 Euro renoviert werden. Was immer noch fehlt: Kindergartenplätze und Volksschulen, Ausbildungsberufe und am Wochenende mal was zum "doan". Was dafür jeden Samstag stattfindet: die heilige Messe. Da kommen nur mehr eine Handvoll Leute, außer es ist Beerdigung.

Bei einer Trauerfeier im letzten Winter hat es einen Corona-Fall gegeben, danach musste fast der gesamte Ort in Quarantäne. Nach zwei Wochen folgte die große Auferstehung, nur eine musste in ewiger Zuschreibung liegen bleiben: "Hier liegt die Jungfrau Hedwig Perl" – so steht es auf ihrem Grabstein.

Talgeschichten

Befragt man die Frauen aus dem Tal, sagen die: "Die Hedwig war doch stolz darauf, keinen Mann gehabt zu haben." Andere meinen, sie sei von einem Erbschleicher zwei Jahrzehnte lang umworben worden. Aus Frust habe der das mit der Jungfrau angeordnet. Anders erging es Bertha Friedl. Auf ihrem Stein steht der Zusatz "Bergbäuerin". "Hedwig war eigentlich auch eine Bäuerin", erklärt Rosi Friedl, Berthas Tochter. Aber das Katholische ist hier eben wichtig. Die Hedwig, die soll sogar im Kloster gewesen sein. Bis sie zusammen mit dem Pförtner rausgeschmissen wurde. Aber da erzählt sich hier jeder eine andere Geschichte.

Rosi Friedl hält den Rechen in der Hand. Sie trägt eine sportliche Sonnenbrille und Funktionskleidung; ihre Körperhaltung ist aufrecht und stark. Den Heuschlepper ist sie selbst den Berg hochgefahren, als Volljährige hat sie den Führerschein dafür gemacht. Heute, über vierzig Jahre später, schaut sie nicht einmal mehr auf das Getriebe, das sie je nach An- oder Abfahrt spezifisch bedienen muss.

Neben der Feldarbeit ist Rosi Talchronistin. Was sie schreibt, wird in die Dorfgeschichte eingehen. Seit 1991 dokumentiert sie jedes Jahr, wer gestorben ist und geboren wurde; wer her- und weggezogen ist. Außer im Winter, wenn die Kühe reingehen: "Dann gehen alle meine Gedanken zum Stall." Den Hof hat Rosi mit dreißig Jahren von ihrem Vater übernommen, keiner ihrer drei Brüder habe sich das antun wollen.

Als Mädchen habe sie sich nicht getraut, dafür ihr Interesse anzumelden, obwohl sie immer schon lieber mit Kühen als mit Menschen geredet hat. Lange arbeitete sie dann bei einem Pfarrer in Innsbruck, als Mädchen war an eine höhere Ausbildung nicht zu denken.

Dorfspekulationen

Fragst du Rosi, wie sie sich gefühlt hat, als der Vater ihr den Hof schlussendlich überließ, antwortet sie, wie es einer Chronistin würdig ist: "Ich spürte die Verantwortung und die Last. Ich wusste aber auch, dass ich dafür geboren war." Ihren damaligen Mann hat sie später rausgeschmissen, weil der bald eine andere hatte.

Deswegen heißt Rosi heute wieder Friedl, wie ihre Mutter. Das ganze Tal habe nach der Scheidung darauf spekuliert, wann sie mit dem Hof und den zwei Kindern untergehen würde. Dann habe sie sich Arthur ins Haus geholt, ihren Mädchennamen aber behalten. "Das ist schon schlimm, wenn der eigene Lebensentwurf verloren geht", sagt Rosi nachdenklich. Sie sprintet über das Feld den Abhang hinunter, als sei sie auf der Flucht. "Du, i geh nur schnell zu Fuß zurück."

Altes Rollenverständnis

Verliert eine Gemeinde in zehn Jahren ein Viertel ihrer Einwohnerinnen und Einwohner, folgt innerhalb von 40 Jahren die Nullmarke. In Pfafflar könnte man den Eindruck haben, dass genau darüber niemand reden will. E-Mails bleiben unbeantwortet, in Tirol geht noch viel über das Telefon. Dann aber, wenn man jemanden erreicht, wird viel erzählt.

Petra Krabacher ist eine der 200 Bürgermeisterinnen Österreichs, seit März dieses Jahres steht sie der Gemeinde vor – und ist eine der wenigen Frauen, die sich gleich mehrere Posten zutrauen. So leitet sie zusätzlich den Tourismusverband und den Bauausschuss Pfafflars. "Das könntest du natürlich ausnutzen", das weiß zumindest Petra Krabacher.

Aber als Frau in diesem Beruf ist das sowieso so eine Sache. Irgendwo gibt es schon das alte Rollenverständnis zwischen Mann und Frau. Das sei schon eine Umgewöhnung für alle Beteiligten. Da seien viele Gespräche zu Hause notwendig, aber was man in der Stadt nicht versteht: Wie sollst du das auch machen? Als Bürgermeisterin, als Landwirtin, als Mutter?

Da muss der Mann am Herd stehen, da muss er auf die Kinder aufpassen, da muss die Bürgermeisterin eben einmal selbst die Heizung entlüften; das geht nicht, dass da ein Arbeitsbereich allein an der Frau hängen bleibt.

Unliebsame Entscheidungen

Aber einen Job wie bei den Frauen aus der Stadt, von neun bis fünf, das könne sie sich nicht mehr vorstellen, das habe sie als junges Mädchen gemacht, sie kam ja wegen der Liebe her, jetzt ist ihr die Selbstbestimmung wichtig. Aber auch, dass sie einfach in die Natur gehen kann, da sind nicht so viele, die sich einmischen, hier lässt sich viel selbst entscheiden. Sowieso: Darüber habe sie viel Rücksprache mit der neuen Bürgermeisterin Stefanie Krabacher aus Gramais gehalten.

Beiden sei nach der Wahl schlagartig bewusst geworden: "Die Dinge, die wir entscheiden, die werden tatsächlich gemacht." Die Chefin zu sein von dem Ganzen, das bedeutet zu verstehen, dass du in so einem Tal jede Person kennst. Da musst du schon einmal unliebsame Entscheidungen treffen, du musst den Leuten danach in die Augen schauen können.

Es habe aber auch Momente gegeben, da hätte sie am liebsten alles hingeschmissen. Wochenlang habe sie sich zu den Altlasten des vorherigen Bürgermeisters einlesen müssen. Trotzdem frage sie sich schon lange nicht mehr: "Was hast du dir da angetan?" Sie wisse ja, wofür sie es mache: Gibt es keine, die den Job macht, werden die Gemeinden zusammengelegt. Dann treffen andere die Entscheidungen.

Selbstbestimmung

In Pfafflar munkelt man hinter vorgehaltener Hand, dass Petras Mann, der Jäger, eigentlich im Hintergrund die Fäden zieht. Aber Ramona glaubt nichts davon: "Das können die Männer nicht haben, dass das eine Frau ist, die mal was entscheidet. Das wollen die dann wieder zu ihrem Ding machen." Und manche Frauen, die hetzen dann sofort mit. "Aber wo soll das hinführen, wenn wir uns gegenseitig fertigmachen?"

Ramona sitzt auf der Holzbank vor dem großen Bäuerinnenhaus. Sie sagt, das ist doch ein selbstbestimmtes Leben, wenn man selbst das Vieh versorgt, wenn man das Fleisch und die Eier vor der Haustür hat. Da in der Natur, da rennt zwar nicht so viel wie in der Stadt, aber ist das nicht auch schön? Hat das nicht auch was? Mit 25, vor acht Jahren, ist sie von Bach nach Boden gezogen, um mit Christoph, Rosi Friedls Sohn, den Hof zu versorgen.

Ramonas Aufgaben haben sich seitdem verselbstständigt. Heute ist sie unter anderem Social-Media-Managerin. Sie kümmert sich um den Instagram-Account der Ferienwohnungen sowie um das Heu, das zu neunzig Prozent an deutsche Kaninchen verfüttert wird.

Neben dem 18 Monate alten Emil bleibt da keine Zeit für Geschlechterkämpfe. Da muss der Mann eben auch am Herd stehen, da muss er dem "Bua" die Flasche geben; von Anfang an habe Emil gelernt, dass es egal ist, wer ihn ins Bett bringe: "Das kann der Papa genauso gut."

Namensfrage

Ramona steht in der Küche und wäscht ab, sie kann es nicht sehen, wenn da was lange rumsteht. Christoph nimmt das Küchentuch und stellt sich zum Abtrocknen dazu, er erzählt, dass manchmal Sprüche von den Freunden kommen, ob er seinen Laden zu Hause nicht im Griff habe.

Laura Nunziante hat in Pfafflar nicht nur geschrieben, sondern auch selbst den Rechen in die Hand genommen.
Foto: Ramona Sprenger

Bei der Hochzeit, da habe der Standesbeamte die beiden Vermählten gefragt: "Wie wollts denn heißen?" Und wie aus der Langwaffe geschossen riefen beide ihre jeweiligen Nachnamen. "Jetzt habe ich dreißig Jahre lang Sprenger geheißen, da kann ich meine Identität doch nicht einfach auf geben", sagt Ramona dazu.

Dann habe der Beamte vorgeschlagen, dass sie sich einfach einen neuen Nachnamen aussuchen sollen. Ihr Vorschlag zur Güte: "Ramona Rodriguez, das klingt doch schön." Nicht nur deswegen heißt sie heute Sprenger: "Wenn es dann doch nicht zwischen uns klappt, hast du wenigstens kein Geschiss am Ende."

Fachkräftemangel

Gabi Goth huscht durch die Bergheimat. Ihre roten Locken wippen, sie ist stark und schön gebaut, trägt ein blaues Shirt mit Glitzersteinchen. Nachdem Walter Lechleitner, der ehemalige Besitzer, letzten November verstorben ist, wurde das Hotel auf ihren Namen überschrieben. Die Einrichtung ist seit den 1950er-Jahren gefühlt ident geblieben, die Bänke sind mit rotem Stoff und gelben Blüten darauf bezogen, auf den Tischen steht Maggi. Als Kind war Gabi jeden Winter in dem Hotel, fast hätte sie mit 15 hier ihre Lehre begonnen.

Erst 1993 ist sie dann aus Heilbronn mit ihrem Mann hergezogen, um Walter zu unterstützen. Und jetzt? Jetzt sind beide Männer innerhalb von ein paar Wochen gestorben. "Das merkst du schon, dass die fehlen." Den Fachkräftemangel spürt Gabi auch, aber sie denkt nicht daran aufzuhören: Würde sie die Bergheimat abgeben, wäre das ein weiterer Rückschlag für das Tal. Ohne Küchenchefin Mona, ohne die rumänischen Hilfsarbeiterinnen, ohne Uwe aus Wuppertal würde es sicher nicht gehen.

Oft bringt die Chefin höchstpersönlich die Frittatensuppe an den Tisch. Dann fragt sie die deutschen Gäste: "Aber du weißt schon, watt da drin ist?" Als Walter Lechleitner noch nicht einmal ganz kalt gewesen sei, habe man im Tal untereinander gepokert, wer sich die Bergheimat unter den Nagel reißt. Das habe Ramona mitbekommen und sofort die Gabi angerufen: "Pass uff", habe sie ihr damals geraten. Nicht jeder hier will das Beste für dich.

Den Wald verstehen

Zurück zu Ramona, Rosis Schwiegertochter. Von zu Hause ausgezogen ist sie mit 18. Da hat sie in einer Metallfabrik gearbeitet, im Dreischichtbetrieb, nachts sei sie oft die einzige Frau unter dutzenden Männern gewesen.

Da habe es auch einmal brenzlige Situationen gegeben mit den Kerlen, da habe einer mit einem Cutter vor ihrer Nase herumgefuchtelt, "Gut, dass ich dann später den Jagdschein gemacht habe." Dreimal die Woche sei sie zum Jagdkurs gegangen, obwohl sie niemals habe schießen wollen. Es sei ihr lediglich darum gegangen, das Wissen aufzusaugen, das es braucht, um den Wald zu verstehen: "Anhand der Kacke von den Viechern lernst du viel über die Natur."

Zwei Monate später habe sie ihren ersten Hirsch erlegt. In dem Kurs sei sie eine von nur wenigen Frauen unter dreißig Kerlen gewesen. "Willst mal meine Trophäen sehen?" Ramona springt begeistert auf. Im obersten Stockwerk, über den beiden Ferienwohnungen, hängt ein großer ausgehöhlter Hirschkopf. Und neben einem ausgestopften Murmele hängt ein Foto von Ramona in olivgrüner Jagdkleidung. "Du, ich hab nen Kaliber da, da kanscht nen Bär mit schießen."

Singlefrauen und Wölfe

Im Gemeinderat von Pfafflar arbeitet man derweil daran, junge Familien anzuwerben. Mit Busanbindungen zur nächstgelegenen Schule. Mit mehr Wohnraum. Das in der Stadt gefeierte Konzept der Singlefrau ist hier so selten wie der Wolf. Der einzige weibliche Single und damit die begehrteste Frau von Pfafflar sitzt im Sommerpullover auf der Terrasse der Bergheimat, vor ihr steht ein großes Bier.

Wenn Martha erzählt, denkt sie kurz nach; "Jaein" ist ihr Lieblingswort. Vor einem Monat hat sie sich von ihrem langjährigen Freund getrennt. Der habe ein Haus bauen und mit ihr ins nahe gelegene Ehrwald ziehen wollen, aber sie habe ihm eine klare Absage erteilt.

Wenn du Martha dazu fragst, sagt sie: "I hob ja alles da." Nicht nur ist sie Ortsleiterin der hiesigen Landjugend, sie ist auch eine von drei Frauen im Gemeinderat. Dafür habe Petra Krabacher sie beim Spazierengehen angeworben. Die Petra, die habe explizit nach Frauen gesucht. Da ist ja alles Männerdomäne, da im Tal. Aber das passt schon, draußen in Ehrwald wäre sie sowieso nicht glücklich geworden, lieber sei sie traurig in Pfafflar.

Und tatsächlich, nach einem weiteren Bier, da wird Martha wirklich traurig. Da erzählt sie, dass es gerade als Frau ganz schön hart sein kann, wenn dich jeder kennt, besonders wenn es darum geht, offen über die eigenen Emotionen zu sprechen. "Da verdrückst du eine Träne, weil du zu viel getrunken hast, und schon wirst net mehr ernst genommen." Durch den Gemeinderat ist sie jedenfalls für weitere sechs Jahre an Pfafflar gebunden. Gut so, woanders müsste sie sich sicher anpassen. Da könne sie gleich in die royale Familie einheiraten. "Da hascht am Ende mehr davon."

Freundschaft, dann Liebe

Rosi, Ramona und ihre beiden Männer machen nach der Feldarbeit Brotzeit. Auf dem Tisch stehen Speck, Bergkäse, Eiersalat. Später waschen die Frauen ab, man könnte meinen, da ist doch nicht so viel dran an der Pfafflar’schen Emanzipation. Aber danach passiert etwas scheinbar Banales: Rosi und Ramona tratschen. Darüber, was im Bezirksblatt steht. Darüber, was im Gemeinderat rennt. Darüber, wer morgen mit aufs Feld gehen darf, wer die Medikamente für Arthur aus Imst holen muss.

Ramona fragt jetzt Rosi, ob sie Arthur damals, als sie ihn auf den Hof holte, wirklich geliebt habe. "Also, habt ihr was miteinander gehabt?" Rosi denkt nicht lange nach. Erst sei es nur Freundschaft gewesen, dann Liebe, dann wieder Freundschaft. "Halt so, wie man es gerade braucht." Aber so seien die Frauen hier im Tal eben. Frei und wildgewachsen. Für Rosi ist das ganz einfach: "Wir haben eben gelernt, unsere Meinung zu sagen." (Laura Nunziante, ALBUM, 6.8.2022)