Ein "Genußmittel in des Wortes edelster Bedeutung" nannte es das Appetit-Lexikon aus dem Jahr 1894. "Der kitzelnde Schmerz, den die Kälte dem Gaumen bereitet, ist mit so überschwänglicher Wollust gepaart, daß man nur mit dem Gefühle tiefsten Mitleids der Vorwelt gedenken kann, die diesen Genuß hat entbehren müssen." Schon Ende des 19. Jahrhunderts war das Eisschlecken eine beliebte Sommerbeschäftigung. Eingeführt hatten es die Italiener, die damals – getrieben von Hunger und Arbeitslosigkeit – aus den Tälern Norditaliens in die Reichshauptstadt kamen.

"Heute würde man Wirtschaftsflüchtlinge zu ihnen sagen", meint Franz Leonardelli, der gemeinsam mit Tochter Mona drei Eissalons in Wien und Umgebung führt.

Stolz zeigt er die gerahmte Urkunde, die sein Großvater am 11. Juni 1900 verliehen bekam und die heute im Lokal in der Klosterneuburger Straße hängt: die offizielle Gewerbeberechtigung der k. u. k. Behörden, verliehen an den Zuckerbäcker Lodovico Leonardelli. Auch er verließ sein Heimatdorf in den Trentiner Bergen, wo er als sechstes von sieben Kindern aufwuchs, und ging in die "Wunderstadt Wien", wo es "Arbeit in Hülle und Fülle gab".

Drei Generationen Leonardellis.
Foto: Heribert Corn

Nachdem sie sich anfangs mit Hilfsarbeiten auf dem Bau oder dem Verkauf von Zuckerln über Wasser gehalten hatten, schwenkten immer mehr Italiener auf Eis um, das in ihrem Heimatland schon groß in Mode, in Wien aber noch neu und aufregend war. Mit kleinen Wägelchen – "caretti" – zogen sie durch die Stadt. Die Kaffeehausbetreiber fürchteten um ihr Geschäft und bewirkten, dass das Wandergewerbe 1894 verboten wurde. Fortan brauchten die Gelatieri ein fixes Lokal samt Konzession, um ihr Eis zu verkaufen.

Das erste Geschäft von Lodovico Leonardelli lag unweit des heutigen Stammhauses im 20. Bezirk. Bilder des "nonno" und seiner Familie zieren Speisekarte und Wände des Lokals. Als Hommage an die über 120-jährige Tradition trägt es seit einigen Jahren wieder den ursprünglichen Namen: Leonardelli Gefrorenes-Salon.

Sherbet, das zum Sorbet wurde

Das damalige Eis war im Grunde eine gefrorene Masse aus Milch, Früchten und Zucker, erklärt Franz Leonardelli. Lange nicht so geschmeidig wie heute. Vermischt wurden die Zutaten in einem Holzbottich, der in einer Mischung aus Salzwasser und Eis badete. Mit einem Holzstab wurde die am Rand gefrierende Masse abgekratzt und untergerührt.

Heute wird die Arbeit von Maschinen erledigt. Die "Heiligtümer", wie Mona Leonardelli sie nennt, brummen im Nebenraum des Lokals, wo tagtäglich – je nach Wetterlage – 500 bis 1.000 Liter Eis produziert werden. Gerade quillt dunkles Schokoeis aus dem Hahn. "Frisch ist es am allerbesten", meint die Chefin und reicht einen Löffel zum Probieren: eine samtige Eiswolke! Die Grundmasse besteht aus Milch, Obers und – für die Extracremigkeit – ein wenig Butter. Trotz der modernen Maschinen, sagt Leonardelli, brauche es viel Erfahrung und Gefühl.

Eissalon Leonardelli: 120 Jahre Tradition ...
Foto: Privat

Der Ursprung des Eises liegt in China. Schon vor über 5000 Jahren mischte man zerstoßene Eiswürfel und Früchte zu Wassereis. Auch in der europäischen Antike kannte man die erfrischende Süßspeise. Römische Kaiser schleckten es ebenso wie Alexander der Große und der griechische Arzt Hippokrates, der es als schmerzstillendes Mittel bei körperlichen Leiden empfahl. Mit dem Untergang des Römischen Reiches verschwand auch das Wissen um die Eisherstellung – bis die Araber viele Hundert Jahre später in Sizilien anlandeten und – noch ein paar Hundert Jahre später – der venezianische Kaufmann Marco Polo aus China zurückkehrte.

Im Gepäck hatten sie: Sherbet, ein ursprünglich aus Persien stammendes gefrorenes Fruchtgetränk (wovon wohl auch das Wort Sorbet abstammt), sowie das in Asien verbreitete Wassereis. Von Italien aus trat das Eis, verfeinert von italienischen Konditoren, seinen Siegeszug durch die europäischen Adelshäuser an. Es war ein exklusives Vergnügen: Zucker war kostbar, die Beschaffung und Kühlung der Eisblöcke aufwendig.

Eisrekorde in Wien

In Wien wurde es nach der Zweiten Türkenbelagerung 1683 populär, im 18. Jahrhundert gab es das Eis in immer mehr Limonadenhütten – Vorläufer der heutigen Schanigärten – zu kaufen. Doch erst die italienischen Eismacher, die mit ihren "caretti" durch die Straßen zogen, machten es auch der breiten Masse zugänglich.

170 Eissalons listet die Wirtschaftskammer in Wien. Hinzu kommen zahllose Eisvitrinen in Kaffeehäusern und Konditoreien. Ob die Stadt damit wirklich den europäischen Rekord hält, wie oftmals behauptet wird, lässt sich schwer nachprüfen. Fest steht: Eissalons gibt es viele, und es werden Jahr für Jahr mehr.

... Der erste Eissalon von Patron Lodovico Leonardelli eröffnete im 20. Bezirk – unweit des jetzigen Stammhauses, wo die Familie Leonardelli bis heute Eis verkauft.
Foto: Privat

"Der Lieferant, über den wir die Maschinen beziehen, meinte, dass er in den letzten zwei Jahren deutlich mehr Anfragen erhalten hat", erzählt Mona Leonardelli. Viele von Quereinsteigern. Eis steht für Sommer, Leichtigkeit, Genuss. Und, sagt Leonardelli, das Eisgeschäft ist ziemlich krisenfest.

Was viele aber unterschätzten: die langen Tage, die körperlich anstrengende Arbeit, kaum Urlaub. Immer mehr Eissalons haben auch im Winter geöffnet, verkaufen Punsch und Mehlspeisen. "Unsere Eltern haben uns immer ermutigt, das zu machen, worauf wir Lust haben", erzählt Mona Leonardelli. Sie arbeitete im Eventbereich, bevor sie vor vier Jahren ins Familienunternehmen einstieg. "Es geht nur, wenn man wirklich will."

Gut Eis braucht Weile

"Man muss das Produkt lieben", sagt Carlo Maghakian. Er ist einer dieser eisbegeisterten Quereinsteiger. 2021 hat er im achten Bezirk seinen Eissalon Gelato Carlo eröffnet. Schon als Kind war er vernarrt in Eis. Mit Beginn der Corona-Pandemie beschloss er, seiner Leidenschaft auch beruflich nachzugehen. Als Lehrmeister kam für ihn nur einer infrage: der Bologneser "Eispapst" Giacomo Schiavon, zu dessen Kunden Spitzenköche in ganz Europa zählen.

Maghakians Hartnäckigkeit zahlte sich aus: Sechs Monate verbrachte er bei Schiavon, lernte, mit Temperatur zu arbeiten, mit Konsistenz und Süße. "Jede Sorte hat ihren eigenen Charakter." In der gläsernen Werkstatt neben dem Verkaufsraum wird gerade Milch für White Night aufgeschäumt. Über 20 Stunden dauert der Vorgang. Vorher wurde die Milch 24 Stunden mit Kaffeebohnen aromatisiert. Eis, auch das lernte er bei Schiavon, braucht Zeit.

EISIGE EXPERIMENTE
versucht Carlo Maghakian im achten Bezirk im Salon Carlo Gelati. Er ortet einen Trend: weniger Süße ...
Foto: Heribert Corn

Das Entwickeln neuer Sorten gehört zu Maghakians liebsten Beschäftigungen. "Man muss ihn immer wieder einmal bremsen", sagt seine Frau, der Platz sei nun einmal begrenzt. Gerade packt sie seine jüngste Kreation in die Vitrine: Arpinas, ein Tahini-Halva-Eis, benannt nach seiner geliebten Großmutter. Andere Sorten heißen Jerusalem, Mammi, Byblos. Es sind die eisgewordenen Erinnerungen seiner Kindheit, die er als Sohn einer österreichischen Mutter und eines armenischen Vaters in Syrien verbracht hat.

.. – ähnlich wie bei den Veganistas .
Foto: Severin Wurnig

Alkohol und Kurkuma

Derzeit experimentiert er mit Cohibatabak und Whiskey. Alkoholisches, meint Maghakian, sei der nächste große Trend. Außerdem Eis, das weniger oder alternativ gesüßt ist, wovon er allerdings nicht viel hält ("das ist wie Pizza ohne Mehl"), sowie milchfreie Sorten.

Auch die Eismacher passen sich an veränderte Essgewohnheiten an, entwickeln neue Kreationen, um ihre Kundschaft zu überraschen. In den 1960er-Jahren wurden Eisbecher populär, 1967 erfand Kurt Tichy seine legendären Eismarillenknödel. Es folgten Joghurt- und Softeis, immer ausgefallenere Sorten und internationale Spezialitäten wie Ice-Cream-Sandwiches und japanisches Mochi-Eis. Es gibt eisgefüllte Krapfen und Buchteln, und das jüngst in Wien eröffnete Helli & Leo verkauft Eis für Hunde.

Eisauswahl bei Helli & Leo.
Foto: Tim Walker

Die Idee, einen veganen Eissalon zu eröffnen, klang 2013 für viele ähnlich verrückt. "In drei Monaten seids sowieso wieder weg!", prophezeite die Nachbarin von Susanna Paller, der Jüngeren der beiden Veganista-Schwestern. Damals sei pflanzliche Ernährung kein Thema und vegan fast ein "böses Wort" gewesen.

Am Eröffnungstag, neun Grad und Nieselregen, standen die Leute Schlange. "Wir waren zwei Wochen lang ausverkauft und sind mit der Produktion nicht mehr nachgekommen", erzählt ihre Schwester Cecilia Havmöller. Heute hat fast jeder Eissalon – auch alteingesessene Traditionsbetriebe wie Leonardelli – neben klassischem Sorbet auch vegane Varianten im Angebot.

Verrückt!
– meinten viele, als Susanna Paller 2013 den veganen Eissalon Veganista eröffnete. Es wurde eine Erfolgsstory.
Foto: Severin Wurnig

Worauf es dabei ankommt? Man müsse wissen, welche Milch zu welcher Sorte passe. "Wenn man den Code einmal geknackt hat, ist es leicht", sagt Paller. Ansonsten gilt auch bei ihnen: nur beste, frische Zutaten. "Wenn wir Feigeneis machen, waren wir frühmorgens noch beim Feigenhof draußen in Simmering."

Ihr Ziel sei es nicht, veganes Eis zu machen, sondern das beste Eis, das noch dazu eben vegan sei. Themen wie Umwelt- und Klimaschutz spielten bei ihren Kunden eine immer größere Rolle, sagt Paller. Doch die Wenigsten ernähren sich rein vegan. Sie kommen, weil sie Lust auf gutes Eis und experimentelle Sorten haben. Die gab es bei Veganista von Anfang an: Orange-Olivenöl-Safran, Wasabi, Tomate. "Man muss innovativ sein, sonst ist der Kunde weg." Für die regionale Woche kreierten sie Joseph-Brot-Eis, im Rahmen eines Kinderhilfsprojekts entstand die Sorte Kurkuma-Karamell.

Am Schluss ein "Hmmmmm"

Mona Leonardelli freut sich über die Diversifizierung der Eisszene. Es sei ein Miteinander, kein Gegeneinander. Und: "So eisverrückt, wie die Wiener sind, nimmt man sich da auch nix weg."

Trotz Eisliebe und krisenfesten Geschäftsmodells waren die vergangenen Jahre auch für die Eismacher nicht leicht. Lockdowns und Kontaktbeschränkungen, nun die steigenden Lebensmittelpreise. Eine Herausforderung, sagt Franz Leonardelli. Denn: "Ich will, dass sich jedes Kind bei uns ein Eis leisten kann."

Diese kleine Freude, die sie ihren Kunden im Alltag bereiten – das sei das Schöne am Eisgeschäft. Auch Maghakian, der ein Faible für Regentage hat, denn dann könne er sich der kleinen Maschine im hinteren Teil der Werkstatt widmen, in der er mit neuen Sorten experimentiert, sagt: Das Beste sei das "Hmm" der Gäste, wenn sie das Eis noch im Geschäft anschlecken. (Verena Carola Mayer, 6.8.22)