Zerstörungen nach dem Beschuss eines Wohnblocks in Mykolajiw. Amnesty International wirft der Ukraine vor, Kampftruppen in Wohngebieten zu stationieren. Kiew reagiert darauf empört.

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Ukrainische Medien sprechen von einem "Skandalbericht": In der Nacht auf Donnerstag veröffentlichte die Menschenrechtsorganisation Amnesty International einen Report, in dem sie der Ukraine ein Bruch des humanitären Völkerrechts vorwirft. Man habe nach einem klaren Muster Soldaten und Militärtechnik in Wohngebieten von 19 Städten in den Gebieten Charkiw, Donbass und Mykolajiw untergebracht und von dort russische Positionen beschossen. Dadurch habe man die Zivilbevölkerung erheblich gefährdet.

In der Ukraine fallen die Reaktionen – gelinde gesagt – empört aus. Als Erster äußerte sich Präsident Wolodymyr Selenskyjs Stabschef Mihajlo Podoljak. Jegliche Berichte über Vergehen der ukrainischen Armee seien Teil einer "Informationskampagne mit dem Ziel der Diskreditierung der ukrainischen Streitkräfte", wie ihn die ukrainische Nachrichtenagentur Unian zitiert.

Der Präsident selbst warf Amnesty International in seiner abendlichen Ansprache Täter-Opfer-Umkehr vor. "Wenn jemand behauptet, Täter und Opfer seien in irgendeiner Weise identisch, und irgendwelche Daten über das Opfer analysiert, während er die Taten des Aggressors komplett ignoriert, dann kann das nicht geduldet werden", teilte er seiner Bevölkerung mit.

Am Freitagabend war zu hören dass mindestens fünf internationale Forscherinnen und Forscher ("international researchers") ihre Akkreditierung verloren hätten, für Amnesty International in der Ukraine tätig zu sein.

Außerdem trat am Abend eine Pressesprecherin des Ukraine-Büros von Amnesty International aus Protest gegen den "skandalösen Report" ihres Arbeitgebers von ihrem Amt zurück. Den Schritt verkündete sie in einer halböffentlichen Mitteilung auf Facebook.

Zu schnell weggewischt

Statt sich dieser Kritik inhaltlich zu stellen, sprach Amnesty-Generalsekretärin Agnès Callamard von "Propaganda" durch "ukrainische und russische Social-Media-Mobs und Trolle". Bereits in der Vergangenheit sah sich die Organisation mit Vorwürfen konfrontiert, als sie dem in Russland inhaftierten Oppositionellen Alexej Nawalny im vergangenen Jahr den Status eines politischen Gefangenen zeitweise aberkannte.

Wer den Bericht liest, muss jedoch feststellen, dass keinesfalls die Rede von einem Ignorieren der russischen Aggression sein kann. An mehreren Stellen wird hervorgehoben, dass die Präsenz ukrainischer Soldaten in Wohngebieten keine Rechtfertigung für russische Kriegsverbrechen sein könne. Amnesty International betont, dass die russischen Angriffe – selbst wenn dabei militärische Ziele anvisiert worden sein sollten – unverhältnismäßig und willkürlich durchgeführt wurden.

Die Organisation weist auch darauf hin, dass in vielen Fällen Raketen auf Wohngegenden gefeuert wurden, in denen kein Militär stationiert war. Und es werden Vorwürfe aus früheren Berichten wiederholt, denen zufolge Russland Streubomben etwa auf Charkiw abgeworfen hat – wegen des hohen Risikos für Kollateralschäden haben sich über 100 Länder weltweit verpflichtet, diesen Waffentyp nicht einzusetzen. Auch sonst finden sich auf Amnesty Internationals Website etliche Berichte, in denen russische Kriegsverbrechen angeklagt werden.

Mängel im Report

Trotzdem kann der Report mit Recht kritisiert werden. Vor allem lässt er außer Acht, dass die ukrainische Regierung sich durchaus um die Evakuierung der Zivilbevölkerung bemüht hat und das auch weiterhin tut. Das kritisierte zum Beispiel der Journalist Denis Trubetskoy, der auch für den STANDARD schreibt, auf Twitter.

Der Versuch, Fluchtkorridore aus der von Russland mittlerweile fast komplett zerbombten Großstadt Mariupol zu errichten, wird mit keinem Wort genannt. Ebenso wenig, dass Russland zu Kriegsbeginn Fluchtrouten ausschließlich in okkupierte Gebiete erlauben wollte – wodurch die Ukraine keinerlei Möglichkeit mehr gehabt hätte, für die Sicherheit der eigenen Bürgerinnen und Bürger Sorge zu tragen. Gerade in dieser Woche hat die Ukraine außerdem mit der Evakuierung des Donbass begonnen, wo schwere Kämpfe bis Herbst erwartet werden. Dass die Ukraine versucht, die Zivilbevölkerung zu schützen, ist nicht abzustreiten.

In einer Pressemitteilung weist Amnesty International darauf hin, dass die Ukraine in konkreten Fällen aber zusätzliche Maßnahmen hätte ergreifen müssen. Dazu zählen laut der Menschenrechtler etwa die Warnung von Anwohnern, in deren Nähe Militär untergebracht wurde, oder deren Evakuierung in sicherere Bezirke.

Wasser für die Propaganda-Mühlen?

Die Vorwürfe, die Amnesty International erhebt, sind ernst zu nehmen. Sie stützen sich, wie ein Vertreter von Amnesty International im Gespräch mit dem STANDARD betont, auf etliche Augenzeugenberichte, Fotos und Videos, die dann mit Satellitenbildern und Wetterberichten verifiziert wurden. Außerdem haben Reporter der Associated Press mittlerweile ganz ähnliche Beobachtungen geschildert.

Vor allem aber ist nicht von der Hand zu weisen, dass das humanitäre Völkerrecht vorschreibt, Truppen, sofern irgend möglich, außerhalb von dichtbesiedelten Gebieten zu stationieren. Berichte über Schulen und Krankenhäuser, die zu Stützpunkten umfunktioniert wurden, wiegen ebenfalls schwer. Gerade diese Einrichtungen sollen in Kriegsgebieten eigentlich besonders geschützt werden.

Präsident Selenskyj wirft Amnesty International hingegen vor, Wasser auf die Mühlen der russischen Propaganda zu gießen. Das stimmt zunächst auch. Russische Medien greifen die Erkenntnisse in großem Umfang auf, schieben in ihren Berichten der Ukraine die Hauptschuld an den zivilen Opfern in die Schuhe.

Interpretation liegt bei anderen

Auf die Vorwürfe angesprochen, sagt der Amnesty-Vertreter dem STANDARD, der Kreml "möge zwar die Kritik an der ukrainischen Regierung und den ukrainischen Streitkräften hervorheben", werde jedoch "einen Großteil des relevanten Kontexts ausblenden. Amnesty International und andere Organisationen, die über Menschenrechtsverletzungen berichten, werden oft von verschiedenen Seiten zu Propagandazwecken zitiert und falsch zitiert." Dies sei "kein Grund, unsere Erkenntnisse zu zensieren".

Von einer Hauptschuld der Ukraine kann nach wie vor keine Rede sein. Die Brutalität des russischen Angriffskrieges bleibt auch nach dem Report unbestritten und unzweifelhaft. Ebenso außer Frage steht, dass die mutmaßlichen Vergehen, die darin beschrieben werden, im Kontext einer absoluten Notsituation zu sehen sind, in der die ukrainische Regierung fast unmögliche Entscheidungen treffen muss.

Den Bericht wegen seiner Instrumentalisierung in Russland als "Diskreditierung der Streitkräfte" – ein eigentlich in Russland missbrauchter pseudo-juristischer Begriff – abzutun, ist aber nicht der richtige Weg. Es dürfte gute Gründe für das Handeln der ukrainischen Armee gegeben haben, es gibt aber ebenso Gründe, dieses zu kritisieren.

Die Regierung könnte in dieser Situation die Bereitschaft zeigen, das eigene Handeln zu überprüfen und, wenn nötig, Konsequenzen aus Fehlern zu ziehen – wie es in einer ersten, schnell übertönten Stellungnahme des Verteidigungsministeriums auch angedeutet worden war. Denn genau durch diese Fähigkeit unterscheidet sich die demokratische Ukraine von der russischen Autokratie. (Thomas Fritz Maier, Daniela Prugger aus Kiew, 5.8.2022)