Eine Stimme der Zivilbevölkerung im Krieg: Antonia Rados, hier im Jahr 2014 für RTL in einem Flüchtlingscamp im Nordirak, hörte kürzlich als Kriegsreporterin auf.

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Wien – Sie schenkte der Zivilbevölkerung in den Krisen- und Kriegsgebieten jahrelang Gehör und gab ihr eine Stimme: Antonia Rados. Die 69-jährige Österreicherin und mehrfach ausgezeichnete Journalistin verkündete kürzlich ihren Rückzug aus dem Journalismus.

STANDARD: Ob Ukraine oder Afghanistan: Zu berichten gäbe es nach wie vor genug. Bereuen Sie Ihren Rückzug aus dem Journalismus bereits, oder genießen Sie es momentan?

Rados: Ich bereue es nicht. Ich habe das jetzt über 40 Jahre gemacht. Es war nicht immer leicht, und ich bin erleichtert, dass alles gutgegangen ist. Jetzt ist der Punkt da, an dem ich aufhören muss. Kriegsreportagen sind auch Knochenarbeit, und das kann man nicht ewig machen.

STANDARD: Wie oft wundern Sie sich, dass bei Ihren Einsätzen nichts passiert ist?

Rados: Jeden Tag dreimal.

STANDARD: War es eine Melange aus Glück und Vorsicht?

Rados: Ich glaube, man kann keine Kriegsreportagen unvorbereitet machen. Das halte ich für leichtsinnig. Man kann aber auch nicht alles vorbereiten und muss auch leider lernen, in Kriegsgebieten sehr viel dem Zufall zu überlassen. Dass da Dinge geschehen, die man nicht beeinflussen kann. Über Kriege zu berichten, heißt nicht, die Hände in den Schoß zu legen und zu sagen, es wird schon nichts geschehen.

STANDARD: Sie sind ja bereits im Jahr 1991 vom ORF weggegangen, um für RTL Deutschland zu berichten. Wollten Sie nie zurück nach Österreich?

Rados: Ich sah das nicht so und fand, dass ich bei den deutschen Medien als kleine Österreicherin sehr gut behandelt worden bin. Ich habe sehr viele Chancen bekommen, ob bei RTL, der ARD oder auch NTV. Ich bereue das nicht.

STANDARD: Über Ihre Anfangszeit beim ORF haben Sie gesagt, dass Frauen einen sehr schweren Stand hatten, weil Alpha-Männer den Journalismus dominiert hatten. Wie schwer war es, sich in dieser Männerdomäne durchzubeißen?

Rados: Ich hatte mehrere Probleme. Damals war es generell schwierig, sich als junge Frau durchzusetzen. Das betrifft aber nicht nur mich, und man soll nicht immer sein eigenes Schicksal als das Maß aller Dinge ansehen. Ich habe viele Kolleginnen getroffen, die vorübergehend im ORF waren und aufgegeben hatten, um irgendeinen anderen Job zu ergreifen. Man musste sich wirklich durchbeißen. Zweitens war es als Parteilose in einem damals extrem staatlich oder parteipolitisch organisierten Unternehmen für mich extrem schwer. Das habe ich in dieser Form in Deutschland nicht erlebt. Das Angebot, das ich 1991 bekommen habe, war eine Flucht.

STANDARD: Also eine Flucht auch vor Parteipolitik, die in den ORF hineinregiert?

Rados: Massiv. Sogar als kleine Reporterin bekam man das zu spüren. Das war nichts für mich. Ich fand immer, dass der Journalismus, vor allem wenn es um Außenpolitik geht, einen freien Kopf haben muss. Das war von Anfang an mein Ziel und ist es bis heute: Ausgewogenheit und frei von irgendwelchen Interessen.

Antonia Rados arbeitete von 1978 bis 1991 für den ORF.
Foto: ORF

STANDARD: Wie hat sich diese Parteipolitik bei Ihnen konkret geäußert?

Rados: Durch völlige Intransparenz. Man wusste nie, warum jemand einen Job bekommt – etwa als Paris-Korrespondent – und warum man es selbst nicht wird. Mir wurde zuerst gesagt, ich sei zu jung, und einige Jahre später wurde mir gesagt, ich sei zu alt dafür. So ging das. Es war eine kafkaeske Situation, wo man gegen Wände lief. Es ist ein relatives Wunder, dass ich überhaupt irgendwelche Reportagen machen konnte. Zum Teil nur, weil niemand hinfahren wollte. Nach Afghanistan zum Beispiel.

STANDARD: Sie haben einmal erzählt, dass Sie damals herablassend "Mädi" genannt wurden, worüber Sie sich furchtbar geärgert hatten.

Rados: Das war in jeder Form einer Respektlosigkeit, als junge Frau Mädi genannt zu werden. Ich glaube, dass sich das aber massiv geändert hat. Heute wäre das nicht mehr möglich. Ein cholerischer Chef würde nicht mehr so einfach damit durchkommen. Ich spiele jetzt nicht das große Opfer. Ich sage nur, dass Transparenz in gewissen Bereichen jetzt um einiges wichtiger ist als früher.

STANDARD: Und Sie waren damals von Ursula Stenzel beeindruckt, weil sie Reportagen aus dem Ausland geliefert hatte?

Rados: Es war ja niemand da. Sie war die Einzige, die Reportagen im Ausland machte. Ich kann mich noch gut erinnern: Als Studentin sah ich 1975 plötzlich eine Frau, die aus Spanien berichtete. Und dann ist sie Moderatorin geworden. Wir waren zum Teil im selben Zimmer. Es war damals extrem ungewöhnlich, dass Frauen in irgendeiner Form eine Chance bekamen.

STANDARD: Wie geht man als Reporterin im Krieg mit dieser mehrfachen Verantwortung um? Gegenüber den Zuseherinnen, sich selbst und dem Team gegenüber?

Rados: Na ja, man ist ständig auf hundert und spürt diesen Druck permanent. Von der ersten Sekunde, wenn man in ein Kriegsgebiet fährt, bis zur letzten Sekunde. Es ist eine permanente Anstrengung, und zwar für alle, ob Kameraleute oder Übersetzer. Und es ist eine Verantwortung, auch richtig zu berichten. All das gelingt nicht ständig, das ist vollkommen klar. Ich zitiere manchmal diesen Satz von Elias Canetti: Der Augenblick des Überlebens ist der Augenblick der Macht. Das stimmt auch, wenn man als Mensch in eine Tragödie reinkommt, wo anderen etwas geschehen ist. Die Abgrenzung zwischen Tod und Leben passiert halt jederzeit. Tag und Nacht. Man sieht den Tod, man sieht das Leben, und man sieht das Schlimmste. Und man sieht aber auch das Beste.

STANDARD: Ist das die Faszination des Jobs?

Rados: Es gibt keine Faszination in dem Job. Ich glaube, dieser Mythos von der Faszination ist eine sehr militärische Sicht. Kriegsberichterstattung ist nicht dasselbe wie Krieg führen. Man hat eine Distanz, und man geht auch nicht mit Waffen herum. Man ist der Zivilist, der in Kriegsgebiete reist, weil man diesen Beruf hat – und nicht, weil man dort auf Urlaub ist. In Kriegsgebieten gibt es eine immer stärkere Militarisierung der gesamten Logistik, der gesamten Kriegsführung. Die Militärs sind überall. Entweder als Soldaten, als Presseleute oder als unsere Sicherheitsbeamten, aber wir sind immer noch die Zivilisten, und wir kümmern uns um die Zivilisten in der Berichterstattung.

STANDARD: Sie stehen im Fokus und nicht die Generäle?

Rados: Ich bin stolz darauf, dass ich mich immer von irgendwelchen Generälen, Presseoffizieren und Embedments ferngehalten habe. Mir war das immer suspekt.

STANDARD: Im Irak etwa haben die Amerikaner diese eingebetteten Journalistinnen und Journalisten mitgenommen. Waren Sie da nie dabei?

Rados: Nie. Ich war nur einmal mit der deutschen Armee unterwegs, und zwar einen Tag lang. Einmal haben wir bei ihnen in Kundus (Stadt im Nordosten Afghanistans, Anm.) übernachtet. Ich habe aber nur Schwierigkeiten gehabt, weil ich dauernd rauswollte, und sie das natürlich nicht so gut fanden. Embedment ist keine Kriegsberichterstattung.

STANDARD: An die Front kommt man wahrscheinlich nicht so einfach, wenn man nicht Teil der Maschinerie ist, oder?

Rados: Der Vietnamkrieg war der letzte Krieg, von dem man frei berichten konnte. Seitdem gibt es dieses Embedment. Nach dem Motto: Wir zeigen euch das, zeigen es euch dann aber doch nicht. Man muss sich eh jeden Zentimeter und jeden Bericht erkämpfen. Risiken eingehen, um irgendwo hinzufahren. Und am besten ist es, man fährt dorthin, wo kein Presseoffizier ist.

STANDARD: Ihr Credo war immer, sich nicht instrumentalisieren zu lassen, nicht Teil der Propagandamaschinerie zu werden?

Rados: Das Credo war immer: Abstand halten. Zu allem. Sich von keiner Seite vereinnahmen zu lassen. Weder von Saddam Hussein noch von der amerikanischen Armee, weil Sie den Irakkrieg erwähnt haben. Das ist ein großer Teil der Anstrengung, die man über sich ergehen lassen muss.

STANDARD: Bei Ihnen gab es ja Anschläge und Einschläge im Hotel, Bomben und so weiter. In welcher Situation hatten Sie am meisten Glück?

Rados: Wer 40 Jahre lang in Kriegsgebieten herumfährt und ohne große Schramme herauskommt, der hat in vielen Situationen sehr viel Glück gehabt. Wunder gibt es nicht, daran glaube ich nicht. Es geht um Glück, wenn man sieht, dass jemand umkommt, der leider in der falschen Minute am falschen Ort ist, obwohl er sehr viel Erfahrung hat. Im Nachhinein war es oft schwer vorstellbar, dass alles gutgegangen ist. Eine Situation war etwa in Somalia, wo ich nicht glaubte, dass wir da wieder irgendwie herauskommen, ohne als Geiseln zu enden. Eine andere Situationen war in Afghanistan, wo wir plötzlich in einem Haus voller Taliban- und Al-Kaida-Leute gelandet sind.

STANDARD: Was war im Haus voller Taliban- und Al-Kaida-Leute?

Rados: Nach der Schönrederei der Presseoffiziere über den Krieg gibt es immer öfter ein böses Erwachen. Ein Krieg beginnt immer mit dieser Euphorie. Wunderbar, wir siegen. Und dann kommt ein Punkt, wo eigentlich jeder schon merkt, das geht den Bach runter. Das war in Afghanistan so ungefähr in der Mitte des Jahres 2010, wo jeder noch sagte: Alles ist wunderbar, die Taliban verlieren. Wir waren auf der Suche nach einem ehemaligen Guantanamo-Häftling und sind, ohne etwas zu ahnen, mit dem Übersetzer, der das organisiert hat, in ein Haus gefahren. Ich hätte eigentlich schon misstrauisch werden sollen.

STANDARD: Warum?

Rados: Es sind einfach zu viele Schuhe vor der Tür gestanden. Wir sind in das Haus gegangen, und plötzlich saßen da dutzende bewaffnete Al-Kaida-Leute und Taliban. Die Stimmung war extrem feindlich. Wir waren ziemlich sicher, dass wir da in eine Falle gerannt sind. Das war nicht etwa in Kandahar oder in einer Hochburg der Taliban, sondern mitten in Kabul. Bei solchen Situationen merken Sie, was wirklich los ist. Wie können die Presseoffiziere sagen, alles ist unter Kontrolle, wenn gleichzeitig mitten in der Stadt ein Haus voll mit Waffen, Taliban-Kämpfern und offensichtlich Al-Kaida-Mitgliedern ist? Sie müssen halt manchmal auch die Tür aufmachen, um zu sehen, wie die Realitäten sind.

STANDARD: Wie sind Sie da wieder herausgekommen?

Rados: Ich glaube, das war mein Mundwerk. Ein kleiner Junge kam in dieses Haus. Ich redete mit ihm. Und irgendwie hat dieses Kind die Atmosphäre aufgelockert. Es hat mich aber immer interessiert: Was geht in Taliban-Kämpfern oder IS-Kämpfern vor, wenn sie einer westlichen Frau gegenübertreten? Sie befinden sich oft in einer gewissen Hilflosigkeit, weil sie nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen. Ich hatte in Syrien einmal versucht, an IS-Kämpfer heranzukommen, und sagte zu meinem damaligen Übersetzer: Was glaubst du, wieso nehmen sie eher Männer als Geiseln und vergleichsweise wenige Frauen? Und er sagte mir ganz offen: Na ja, das mit der Frau ist so extrem kompliziert. Da braucht man andere Frauen, die auf die Frau aufpassen. Die sind so hysterisch, die schreien dann herum. Und er sagte auch: Einer Frau kann man nicht einfach eine Ohrfeige geben. Natürlich sind auch Frauen als Geiseln genommen worden, aber das hat mir schon gezeigt, dass man sich als Frau aus gewissen Situationen leichter herausreden kann als ein Mann.

STANDARD: Und ist es manchmal auch ein Nachteil?

Rados: Ja, etwa bei den Militärs. Ich habe einige Situationen erlebt, die von einer gewissen Feigheit geprägt waren. Und ich musste das machen, mich exponieren, und habe im Nachhinein gehört, dass sie erzählten, ich hätte sie in Gefahr gebracht. Jeder im Krieg versucht nur, seine eigene Feigheit und seine Ängste, die er natürlich hat, so gut wie möglich zu verstecken. Ich glaube, als Frau ist es leichter, sie zu zeigen und zu sagen: Das mache ich jetzt nicht, da habe ich Angst. Da geht dann immer so ein allgemeines Aufatmen durch die Runde, weil sich jeder denkt: Ich habe auch Angst, aber ich trau mich nicht, das zu sagen.

STANDARD: Sie haben gesagt, Kriegsberichterstattung sei ein ständiger Kampf gegen die eigenen Emotionen. Können Sie das erklären?

Rados: Ja, es ist ein Kampf gegen die eigenen Emotionen, weil man natürlich Angst hat und die Emotion hochkommt. Die Angst, ob ich überleben werde. Was passiert? Wie wird das ausgehen? Und gleichzeitig muss man ja Berichterstattung machen. Man geht dort nicht hin, um den Helden oder den Feigling zu spielen. Ich würde nie nach Afghanistan fahren, ohne dass es einen Sinn hat, darüber zu berichten. Jeder Reporter glaubt, er hat etwas dazu beigetragen, dass man das eine oder das andere besser versteht. Man hat immer diese Emotion: Soll ich da jetzt hinfahren oder nicht? Kann das jetzt schiefgehen? Mit Emotionen ist ausgewogene Berichterstattung einfach nicht möglich.

STANDARD: Es geht um das Herstellen größtmöglicher Objektivität?

Rados: Wenn jemand in den Krieg fährt und dort extreme Angst entwickelt und den Zusehern sagen muss "Das ist jetzt furchtbar, ich habe solche Angst", dann braucht er nicht hinfahren. Ich kenne viele Kriegsreporter, die genau einmal irgendwo in ein Kriegsgebiet fahren. Ich kann mich an einen jungen Kameramann vom ORF erinnern, der mir gesagt hat: Das ist nichts für mich. Das fand ich richtig und echt. Und er hat das nie wieder gemacht. Oder es gibt andere, die fahren hin, um sich als Helden zu beweisen. Auch das kann nicht der richtige Weg sein.

STANDARD: Ängste lassen sich wahrscheinlich nicht immer kontrollieren. In Erinnerung bleibt etwa ein Bericht von ORF-Reporter Fritz Orter aus dem Jugoslawienkrieg, als er bei einem Beschuss gesagt hat: Jetzt werden wir alle sterben.

Rados: Das ist nicht meins. Jeder soll das machen, wie er will. Ich glaube, dass diese Bandbreite von verschiedenen Arten, aus Kriegen und Krisen zu berichten, absolut akzeptabel ist. Ich bin das nicht. Ich kenne und schätze Fritz Orter sehr als Kollegen. Das ist auch in Ordnung, aber das bin nicht ich.

STANDARD: Wie erging es Ihnen nach den Einsätzen? Welches Ventil hatten Sie, um das Erlebte zu verarbeiten und wieder runterzukommen?

Rados: Ich bekomme diese Frage sehr oft gestellt, wie wahrscheinlich jeder, der in Kriegsgebieten arbeitet. Man muss das schon im richtigen Maß sehen. Wir fahren dorthin, um zu berichten, und kommen nach einigen Wochen wieder zurück. Wir sind extrem privilegiert. Ich habe eine kugelsichere Weste, ich habe einen Helm, ich habe eine Logistik, ich habe ein Fax. Ich schäme mich manchmal, wie privilegiert ich in diesen Gebieten bin. Es gibt so viele Leute, die dort bleiben müssen, die nichts zum Essen haben, die leiden. Und daher lehne ich das Etikett "Wir sind die Helden, die zurückkehren und dann leiden", völlig ab. Das ist meiner Auffassung nach völlig übertrieben. Man hat zwei Leben. Das eine ist in den Kriegsgebieten, das andere ist hier. Und die haben wenig miteinander zu tun.

STANDARD: Und dieses Switchen funktioniert so einfach?

Rados: Essen, und schon ist alles besser. Hunger gehört zu den Gefühlen, die man in Europa zum Glück nicht oder kaum kennt. Ich habe sehr viel gehungert in diesen 40 Jahren. Man kann ja auf alles verzichten: auf gute Schuhe, auf ein Zimmer, das geht ja alles, aber Essen muss man. Und daher hatte ich immer auch Schokolade mit. Hunger ist schrecklich, und in Kriegsgebieten gibt es Tage, an denen man kaum was zum Essen bekommt.

STANDARD: Und die Schokolade, die zu Ihrer Grundausstattung im Rucksack gehörte: War sie nur dabei, um das eigene Bedürfnis zu befriedigen – oder auch als Türöffner, um an Informantinnen und Informanten heranzukommen?

Rados: Die Taliban sind nicht unbedingt darauf aus, Schokolade zu kriegen. Nein, ich würde dem keine zu große Bedeutung beimessen.

STANDARD: Was war Ihr wichtigster Antrieb? Diesen Menschen eine Stimme zu geben, die sonst nicht gehört werden und die im Krieg untergehen?

Rados: Es gibt keinen großen Antrieb, sondern kleine Erfahrungen, die man im Krieg oder in Krisen macht. Man ist ja nicht ständig nur im Krieg, sondern es gibt auch Tage, wo alles ruhig ist. Einfach diese kleinen Dinge, die man versucht im großen Puzzle kennenzulernen. Was man mitbringt, sind erstaunliche Erfahrungen, wie resistent und offen Leute auch in Extremsituationen sind. Und so schlimm manche Erinnerungen sind, ich habe genauso viele über Großzügigkeit zurückbekommen. Wie das auch Wassili Grossman in seinem Buch über Stalingrad berichtet. Es ist ein unglaublich starkes Buch, weil er auch diese Barmherzigkeit der Leute beschreibt. Wie sie in Extremsituationen damit rechnen können, dass der eine oder andere sie aufnimmt, sie irgendwo schlafen lässt. Ich weiß nicht, wie viele Fahrer schon mein Leben gerettet haben, die nichts davon gehabt haben, wie oft ich schon übernachtet habe bei Leuten, die keine Ahnung hatten, wer ich bin. Die nichts dafür verlangen wollten, vor allem in Afghanistan, aber in anderen Ländern genauso. Wie oft ich, obwohl die Leute arm sind, verköstigt wurde.

STANDARD: Viel Empathie und Barmherzigkeit?

Rados: Weil Sie diesen Übergang vom Kriegsgebiet in unsere Welt angesprochen haben: Ich habe mich sehr, sehr oft gefragt, was würde geschehen, wenn ein afghanisches oder iranisches Fernsehteam mitten in einem österreichischen Dorf auftaucht und sagt: Sagen Sie einmal, wo könnte man denn da übernachten? Es wäre interessant, das einmal festzustellen. Ich als Österreicherin mit einem deutschen Fernsehteam tauche in Afghanistan in einem Dorf auf und sage einfach: Wir sitzen jetzt fest, weil irgendetwas passiert ist, wir haben kein Benzin mehr oder der Reifen ist kaputt, wir kommen nicht weiter. Wo kriegen wir denn was zum Essen, und wo können wir übernachten? Und die Leute machen ihre Türen auf. Der Krieg ist voller überraschender Erfahrungen. Eine davon ist, wie sehr die Leute einem das Herz ausschütten. Was für ein großes Vertrauen sie haben, wie froh sie sind, dass wir auftauchen und sagen: Es ist jemand da. Die Welt hat uns nicht vergessen.

Antonia Rados.
Foto: Imago/Marius Schwarz

STANDARD: Ist das immer wieder Bestätigung und Antrieb für den Job?

Rados: Ja. Und diesen Satz, das müssen wir jetzt berichten, haben wir sehr oft im Kopf. Man muss auch für Geschichten kämpfen. Ich habe oft gesagt: Das muss jetzt eine Reportage werden. Und dass man sich auch einsetzt und sagt, die müssen jetzt eine Stimme bekommen. Der eine Krieg verschiebt oder verdrängt den anderen. Ich kann mir vorstellen, dass die afghanischen Frauen im Moment das Gefühl haben, wir reden wegen des Ukraine-Krieges jetzt nicht mehr über sie. Und die müssen sich wirklich fragen: Was ist da los? Was haben wir getan, dass sich alle abwenden? Sie haben überhaupt nichts getan. Es geht ihnen immer noch so schlecht wie früher, aber wir schauen nicht mehr hin.

STANDARD: Viele Medien kämpfen mit wirtschaftlichen Problemen. Reportagen und Kriegsberichterstattung sind teuer. Ein Spagat, der immer schwieriger wird?

Rados: Ja und nein. Wenn es etwa den Ukraine-Krieg gibt, wird viel Geld zur Verfügung gestellt, und die Berichterstattung findet statt. Was sich sehr geändert hat: Es wird viel weniger dem Zufall überlassen. Es ist alles sehr durchorganisiert, was nicht immer gut ist für die Berichterstattung. Ich gebe nur ein Beispiel. Vor 40 Jahren kannte niemand einen Sicherheitsberater für Journalisten, heute ist das ein Riesengeschäft. Meiner Erfahrung nach ist es aber ohne Sicherheitsberater leichter. Es verhindert zum Teil eine ganz direkte Sicht auf Ereignisse, weil er dann sagt: Nein, das können wir nicht machen, das ist zu gefährlich, dahin dürfen wir nicht fahren. Ich glaube, unabhängig vom Geld ist es heute schon eine sehr kontrollierte Berichterstattung. Das Hingehen, das Hinschauen, das Selbst-Herausfinden, was ist, das ist in den letzten Jahren weniger geworden. Auch wegen Embedments, der Sicherheitsberater oder der Idee vom sauberen Krieg. Sauber und Krieg, das passt nicht zusammen.

STANDARD: Wie läuft das Geschäft mit den Sicherheitsberatern ab?

Rados: Sie haben das Paradox, dass sie eigentlich ehemalige Special Forces sind. Der Afghanistan- und der Irakkrieg haben eine ganze Reihe von Special Forces hervorgebracht, also Sondereinheiten, die ab einem gewissen Alter zu alt sind und ausgemustert werden. Private Unternehmen nehmen sie auf, und die kommen zum Einsatz, wenn etwa Manager von Firmen irgendwo hinfahren, wo es gefährlich sein könnte, oder eben Journalisten. Ich hatte selten genug einen Sicherheitsberater mit, aber für mich war das ein ständiger Kampf gegen diese Leute. Sie militarisieren alles, auch die Zivilisten. Sie stehen oder gehen irgendwohin, und da gehen drei, vier Typen mit kurzen Haaren um sie herum. Beim amerikanischen Fernsehen ist das sehr evident. Das ist eine Einschüchterung für alle und verändert alles. Wenn ich dort allein auftauche, ist die Vertrauensbasis eine andere, als wenn ich mit einem riesen SUV und mit vier Sicherheitsberatern komme, die sich herumstellen und nach zehn Minuten sagen: Wir müssen jetzt weg, weil es ist zu gefährlich.

STANDARD: Sie waren lieber ohne Sicherheitsberater unterwegs?

Rados: Ich war lieber ohne unterwegs. Angst ist ansteckend. Und wenn jemand neben Ihnen ist, der in der Früh schon seine Pläne macht und sagt: Auf dieser Straße dürfen Sie nicht fahren, und ich habe gehört, dass es da und da gefährlich ist und so weiter. Ich gebe Ihnen ein völlig absurdes Beispiel: Ich war im Frühjahr noch einmal in der Ukraine und wollte an die Grenze zu Russland fahren. Was völlig selbstverständlich ist, um festzustellen, wie es dort tatsächlich aussieht. Und der Sicherheitsberater sagte am Morgen zu mir: Ich habe mir das angesehen. Wir können dort nicht hin. Es liegt kein Krankenhaus in der Nähe. Und ich sage: Wieso brauchen wir ein Krankenhaus? Sagt er: Wenn jemand verletzt wird, gibt es kein Krankenhaus innerhalb von 30 Minuten. Ich habe mich dann dem gefügt. Aber eigentlich habe ich gedacht, dann hätte ich ja überhaupt nie irgendwo hinfahren können.

STANDARD: Wenn ein Krankenhaus im Umkreis das Kriterium ist?

Rados: Genau. Das ist eine starke Kontrolle der Berichterstattung, die zunimmt. Auf der einen Seite gibt es mehr Sicherheit, das ist ja alles gerechtfertigt, aber auf der anderen Seite ist das natürlich nicht sehr authentisch. Sie sind ja nichts anderes als ein Augenzeuge. Sie gehen hin, schauen sich das an und sagen: Das habe ich gesehen. Das ist blau, das ist weiß, das ist grün. Und hier ist noch eine andere Farbe. Wenn das aber einen Filter hat, ist das um einiges schwieriger. Dann müssen Sie von Hörensagen berichten.

STANDARD: Sie sind ja weder auf Facebook noch auf Twitter vertreten. Wie sehr haben die sozialen Medien die Berichterstattung verändert?

Rados: Ich bin da nicht vertreten, aber auch nicht stolz drauf, es nicht zu sein. Ich bin nicht großartig, weil ich nicht auf Twitter und Facebook bin. Ich habe keine Zeit dafür gehabt. Nicht Twitter oder Facebook haben die Berichterstattung verändert, sondern die kommerzielle Idee, die hinter diesen beiden Medien steckt. Für mich waren das keine journalistischen Quellen und nicht dasselbe wie eine Kamera oder eine Fernsehanstalt. Die ist auch kommerziell, unterliegt aber bestimmten Regeln. Diese regellose Welt tut dem Journalismus nicht gut. Das sind Monopole, die aber nicht als solche wahrgenommen werden.

STANDARD: Ein wichtiges Thema ist ja auch immer, welche Bilder man vom Krieg zeigen darf und soll. Es hat Aufregung gegeben, dass zum Beispiel die "New York Times" Leichen auf dem Cover hatte, die unverpixelt zu sehen waren. Sie wollten damit ein mögliches russisches Kriegsverbrechen dokumentieren. Wie haben Sie das gehandhabt?

Rados: Mein Standpunkt war immer: Wenn eine Szene keine zusätzliche Information liefert, dann nehme ich sie nicht. Es wird im Schneideraum entschieden und davor bereits beim Drehen. Wenn jemand auf mich zugekommen ist und gesagt hat, "Bitte filmen Sie das nicht", dann habe ich das auch nicht gemacht. Und wenn jemand sagt, er will mir kein Interview geben, dann respektiere ich das. Allen voran bei den kleinen Leuten, etwa Flüchtlingen. Was bringt das jetzt, wenn wir noch ein zusätzliches, grauenhaftes Bild zeigen? Die Leute können das eh nicht verarbeiten, und es wird es zu Recht kritisiert, wenn man daraus eine Show macht.

STANDARD: Und gab es so etwas wie eine Leitplanke, dass keine Fotos von Leichen gezeigt werden, oder ist das situationsabhängig?

Rados: Ich glaube, es ist sehr situationsabhängig, Es ist aber auch leichter, in den Büros bei uns darüber zu diskutieren, als vor Ort zu sein. In Kriegsgebieten, wo Sie schnell und unter Druck entscheiden müssen, ist das ein unglaubliches Dilemma. Im Nachhinein sagt es sich leichter, das hier hätte weitergehen sollen oder ist nicht weit genug gegangen. Es ist wahnsinnig leicht, gut zu sein, wenn man nicht gefordert wird. Kriegsreportagen sind eine permanente Herausforderung. Sie müssen ständig Ihren inneren Radar einstellen, und das ist nicht immer leicht.

STANDARD: Gibt es etwas, einen Fehler, den Sie besonders bereuen?

Rados: Es waren so viele, dass ich sie jetzt gar nicht aufzählen kann. Aber ich bin mehrmals im Nachhinein draufgekommen, und das ist der prinzipiell größte Fehler von Journalisten: Man müsste gegenüber der Macht noch tougher sein. Ich hätte gegenüber den Mächtigen noch kritischer sein müssen. Man kann hier nicht kritisch genug sein. Das ist in den letzten Jahren sehr verwässert worden.

STANDARD: Wie zum Beispiel?

Rados: Als der Arabische Frühling war, aber auch im Irakkrieg: Man jongliert immer so dahin. Während des Arabischen Frühlings, also 2011/2012, kommt Al-Sisi (seit 2014 ägyptischer Präsident, Anm.) an die Macht. Ich hatte lange Debatten mit meinem damaligen Übersetzer, und er sagte: Das ist eine neue Revolution, die der Militärs. Und ich habe gesagt: Nein, das ist ein Militärputsch. Ich habe das dann auch immer als Militärputsch bezeichnet. Oder im Irak. Ich habe auch versucht, deutlich zu sagen, was ist, aber es war immer zu wenig. Feigheit ist immer größer als Mut.

STANDARD: Apropos mächtig: Sie haben ja erzählt, dass Sie für Ihre Interviews mit Libyens Machthaber Muammar al-Gaddafi oder mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan lange warten mussten, bis es losging.

Rados: Kürzlich hat auch Erdoğan den Putin warten lassen, und Gaddafi hat überhaupt alle warten lassen, insofern bilde ich mir darauf nichts ein. Es gehörte aber dazu. Auch auf Irans Ahmadineschad (Ex-Präsident des Iran, Anm.) mussten wir ein paar Stunden warten. Ich glaube, es gehört immer dazu, dass der Journalist warten muss. Man ist sehr zermürbt und schon erschöpft, bevor das Interview überhaupt begonnen hat. Aber das ist Arbeitsleid, würde ich sagen.

STANDARD: Und auch ein Machtspiel zur Einschüchterung, weil Sie auch die Entourage von Gaddafi und Erdoğan erwähnt hatten.

Rados: Ich habe versucht, das alles irgendwie hinzunehmen. Gerade bei Gaddafi weiß man ja nie. Da war eine gewisse Irrationalität im Spiel. Was geschieht, wenn man ihm zu kritische Fragen stellt? Ich habe immer gedacht, die werden uns nicht verhaften, nur weil ich ihm eine kritische Frage stelle. Aber ich hatte schon Kameraleute, die nach den Interviews extrem große Angst hatten. Die habe ich dann beruhigt und gesagt: Mach dir keine Sorgen, das geht gut. Aber im Vergleich zu schweren Recherchen, viele müssen abgebrochen werden, weil man nicht weiterkommt, sind diese Interviews nicht so eine schwere Arbeit.

STANDARD: In Ihrem neuen Buch "Afghanistan von innen" schildern Sie, wie Sie über das deutsche Außenministerium die Ausreise aus Afghanistan für 16 Personen organisiert haben. Wie geht es den Leuten in Deutschland?

Rados: Gut, sie sind froh, dass sie hier sind. Ich bin mit ihnen weiter in Kontakt. Ich habe immer noch sehr viele Anfragen von Frauen in Afghanistan, Richterinnen und alle möglichen, die leider keine Visa mehr bekommen. Ich habe mich bemüht. Jetzt versuchen wir, eine andere Initiative zu machen. Auch mit einem Teil der Einnahmen aus dem Buchverkauf möchten wir Onlinekurse für die Frauen in Afghanistan organisieren. Denen hier geht es gut. Das ist berührend wie nur irgendwas. Der Hassan, einer meiner Übersetzer, ist mit seiner Frau gekommen. Sie war schwanger, und in der Zwischenzeit ist der kleine Sohn geboren worden. Er hat mir eine Nachricht geschickt, die mich extrem berührt hat. Er hat geschrieben: Liebe Antonia, dir habe ich zu verdanken, dass mein Sohn in Freiheit geboren wurde. Ich habe sie auch in Berlin besucht und dränge wie eine echte Leihmutter darauf, dass sie Deutsch lernen.

In ihrem neuen Buch "Afghanistan von innen" zeichnet Antonia Rados nach, wie der Frieden verspielt wurde und berichtet von ihren zahlreichen Aufenthalten im Land.
Foto: Brandstätter Verlag

STANDARD: Viele betonen, wie wichtig die Trennung von Journalismus und Aktivismus ist. Haben sich die Voraussetzungen nach Ihrem Rückzug als Reporterin verändert?

Rados: Nein. Ich glaube, ich werde nicht Abgeordnete einer politischen Partei oder zur Aktivistin werden. Wenn jemand meine Hilfe braucht, hat er sie immer bekommen. Im Rahmen, wie ich das kann. Und das wird weiter so sein. Aber das ist kein Aktivismus. Ich schaue nicht hin, wer das ist. Wenn mich jemand fragt, versuche ich ein Problem zu lösen. Durch meine Arbeit kenne ich viele Afghanen, Syrer und andere. Und da muss man ein Unmensch sein, wenn die sagen "Kannst du mir das und das erledigen", und das nicht zu machen. Wenn ich nicht kann, sage ich das eh. Aber wenn jemand sagt, ich brauche jetzt einen Deutschkurs, und wie können wir das am besten lösen, dann lösen wir das. Aber das ist kein Aktivismus.

STANDARD: Im Laufe der Jahre muss es ja unzählige Hilferufe oder Bitten um Hilfe gegeben haben.

Rados: Ja. Das eine geht, das andere geht nicht. Ich bin nicht hingefahren, um eine NGO zu sein. Vor einigen Jahren gab es ein paar junge Afghanen, die aus Deutschland zurückgeführt wurden. Da haben wir eine Reportage über sie gemacht. Natürlich laden Sie solche Leute zum Essen ein. Aber wenn Sie dann gefragt werden: Können Sie mir helfen, dass ich wieder nach Deutschland komme? Das ist alles ungerecht, dass ich da abgeschoben worden bin. Dann müssen Sie denen sagen: Das kann ich nicht. Tut mir leid. Ich kann Frauen helfen, die bedroht sind. Ich schaue mir das genau an. Es gibt Tausende, und man muss da auswählen. Wenn jemand an Sie herantritt und um Hilfe fragt, ist es egal, woher er kommt. (Oliver Mark, 6.8.2022)