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Für einen Bericht das Magazins "Wired" ließ sich Durow 2015 als Hochglanzversion eines stereotypen Hackers ablichten.

Foto: Getty Images / Contour / Sam Barker

Der geheime Held vieler, die in Hasstiraden und Gewaltfantasien gegen Corona-Politik und ihre Vertreter wüten, kommt aus St. Petersburg und gilt als eine der mysteriösesten Gestalten der Tech-Szene: Pawel Walerjewitsch Durow, vom Magazin Forbes auf ein Vermögen von 17 Milliarden Dollar geschätzter Gründer des populären wie umstrittenen Instant-Messengerdienstes Telegram, dessen unmoderierte Chatgruppen nach dem Suizid der oberösterreichischen Ärztin Lisa-Maria Kellermayr vor einer Woche wieder in den Fokus des Interesses gerückt sind (siehe Berichte dazu). Nur die wenigsten der 700 Millionen Telegram-Nutzer würden Durow erkennen, stünde er vor ihnen.

Und das, obwohl Durow als PR-Genie gilt, der keine Gelegenheit auslässt, um seine Messaging-App für ihre dichte Verschlüsselung und geschützte Privatsphäre und damit als letzte standhafte Bastion echter Meinungsfreiheit zu preisen. Dass in dem unregulierten Raum Waffen-, Drogen-, Frauenhandel sowie Gewaltdrohungen und Lügen florieren, diesen Teil der Erzählung lässt der IT-Milliardär gerne aus.

Sich selbst inszeniert Durow als futuristischen Internetkämpfer, ein Mix aus Asket und Superheld, der kein Fleisch isst, auf Alkohol und Koffein verzichtet und seinen Körper stetig optimiert – das Ergebnis dieser Arbeit demonstriert er auf Fotos mit nacktem, gestähltem Oberkörper. Dass kaum ein Porträt über ihn ohne Verweis auf die Matrix-Filme mit Held Neo auskommt, ist durchaus erwünscht.

Drohungen vom Einserschüler

Woran der Herr über den wohl gefährlichsten Messengerdienst der Welt tatsächlich glaubt und wie sehr diese Einstellungen sein Handeln leiten – das ist unklar. Rebellische Züge und Begeisterung für digitale Kommunikation ziehen sich jedenfalls wie ein roter Faden durch die Biografie des 37-Jährigen.

Die Jugend verbringt der 1984 geborene Durow im italienischen Turin, wo sein Vater, ein Linguist, einen Uni-Lehrauftrag hat. Erst 2001 kehrt die Familie nach St. Petersburg zurück. Sein 1980 geborener Bruder Nikolai gilt schon mit acht Jahren als Mathe-Genie, Pawel als rebellischer Zweitgeborener. Eines Tages lässt er auf den Monitoren im Schul-PC-Raum das Konterfei des Informatik-Lehrers erscheinen, daneben die Worte "muss sterben".

Kontroversen schafft Durow auch während seines Linguistik-Studiums. Ein von ihm geführtes Forum für Studierende – er nennt sich dort nach einer Figur aus den Matrix-Filmen "Der Architekt" – wird zum Hit. Durow lenkt, wie die Zeitschrift Wired später berichtet, die Debatte: Er gibt Themen vor, schwärmt von freien Märkten, geht der Frage nach, ob Freundschaft zwischen Frauen und Männern möglich sei. Dabei schaltet er sich insgeheim mit verschiedenen Accounts zu, mit denen er gegensätzliche Thesen vertritt, um Debatten zu befeuern.

Ein "Ätsch!" für Putin

Und er träumt von Größerem. 2006 programmiert er mit Bruder Nikolai eine Plattform, mit der Schul- und Studienfreunde in Kontakt bleiben können: VKontakte ("in Kontakt"), später wird sie einfach vk.com heißen. Es handelt sich um eine Kopie des zwei Jahre zuvor gegründeten Social Networks Facebook. Dass er große Teile des Layouts kopiert hat, gibt Durow zu; alles andere hätte zu lange gedauert.

Und Zeit war essenziell: VKontakte soll sich noch vor Facebook in Russland etablieren. Durow beruft deshalb Kommilitonen und alte Bekannte – Arbeit von Frauen wird in seinem Umfeld weniger geschätzt – in sein Programmier- und Geschäftsteam. Die Gruppe, die die Plattform betreut, ist nicht größer als 40 Personen, im Zentrum steht Durow. Das Betriebsklima erinnert manche der damaligen Mitarbeiter rückblickend an eine Sekte.

Die Wette geht auf: vk.com wird zu Russlands führendem Online-Netzwerk. Ein Teil des Erfolgs liegt daran, dass Videos und Musik hochgeladen werden können – Urheberrechte scheren niemanden. In der New York Times lobt Durow das damalige Klima für Online-Dienste in Russland. Ein Wilder Westen ohne Staatseingriffe, freier als in den USA, sagt er.

Gründungsmythos von Telegram

Doch so bleibt es nicht. Als nach den Wahlen der Staatsduma 2011 zehntausende Russen auf die Straße gehen, um wegen Wahlbetrugs zu demonstrieren, verabreden sich viele auf vk. Die Behörden verlangen die Herausgabe ihrer Daten; Durow widersetzt sich.

Den Brief, in dem der Inlandsgeheimdienst FSB die Infos anfordert, vertwittert er mit dem Foto eines Hundes, der die Zunge zeigt. Das stärkt sein Image als Kämpfer für ein freies Web. Ob der Widerstand der Wahrheit entsprochen hat, ist unsicher. Die Zeitung Nowaya Gazeta veröffentlichte 2012 einen angeblichen Briefwechsel zwischen Durow und dem Kreml-Beamten Wladislaw Surkow, in dem es heißt, vk habe Datensätze gemeldet.

Doch der provokante Tweet wird zum Gründungsmythos von Telegram. Nur wenige Tage darauf, so erzählt es Durow, sei die Polizei vor seiner Tür gestanden. Durow stellt sich stumm, beobachtet die Beamten über den Überwachungsmonitor des Apartments. Nach einer Stunde ziehen sie ab. In dieser Zeit sei ihm klar geworden, dass er keinen sicheren Weg habe, mit seinem Bruder zu kommunizieren. Ein solchen will er schaffen: Telegram – der abhörsichere Messenger.

Digitaler Nomade

2013 ist die erste Version da. Ein Jahr später verlässt Durow Russland, zieht samt Programmierteam als digitaler Nomade umher, wird im Emirat Dubai sesshaft. Dessen autoritäre Regierung lobt er, weil sie von ihm keine Steuern verlangt – und auch, weil sie den Staat wie eine Firma führe. Telegram finanziert er laut eigenen Angaben mit hunderten Millionen Dollar, um die ihm Kreml-nahe Unternehmer 2014 Anteile an vk abgekauft hatten. Wie das passiert ist, ist unklar – eher aber unfreiwillig.

Wie sicher Telegram für seine Nutzer tatsächlich ist, ist übrigens offen. Beziehungsweise: Es hängt davon ab, wie sehr man Durow vertraut. Technisch sind für das Unternehmen die meisten Nachrichten einsehbar. Darunter fällt Informationsaustausch von Dissidentengruppen im Iran, Nachrichten aus der Ukraine – aber eben auch Hass-Messages und Drohungen von Neonazis oder Corona-Extremisten.

Für Lösch-Aufforderungen ist der Dienst nicht erreichbar, es fehlen Ansprechpartner – auch für Behörden. An der offiziell angegebenen Büroadresse in Dubai ist nach einer Recherche des Nachrichtenmagazins Spiegel jahrelang niemand gesehen worden.

Und Durow? Für Interviews steht er nicht mehr zur Verfügung, mit der Öffentlichkeit kommuniziert er via Instagram, Twitter und Telegram. Dort wies er zuletzt auf die Plattformen der New York Times und Washington Post für Infos zum Ukraine-Krieg hin.

Postet er Fotos, erinnern sie noch immer an Matrix. Doch mittlerweile bezieht er sich noch auf einen anderen Film: Das Recht auf Anonymität werde er verteidigen, wie die Spartaner ihre Stadt in 300, textete er unter ein Foto von sich mit nacktem Oberkörper. Man muss seiner Marke treu bleiben. (Manuel Escher, 6.8.2022)