Gerade im Kontext von Diskussionen über Hetze gegen den Islam wird der Straftatbestand Thema bleiben.

Foto: EPA/REHAN KHAN

Am 17. April 2019 las Michael U. einen Zeitungsartikel, der ihn offensichtlich in Rage versetzte. Laut dem Artikel in einer bengalischen Zeitung sei in seinem Heimatland Bangladesch eine 18-jährige Frau ermordet worden. Zuvor hatte sie angekündigt, sexuelle Übergriffe eines Lehrers öffentlich zu machen. U., der eigentlich anders heißt, führte die Tat auf die strenge Auslegung des Islam zurück. Er drückte seine Wut aus, indem er einen Koran zur Hand nahm, mit einem Flipflop darauf herumschlug, Seiten herausriss, in einem Monolog "Hurenkinder", "Ficke die Religion" und "in euren Koran kacke ich" sagte und das Büchlein schließlich in die Toilette warf. Anschließend stellte er ein etwa 30-minütiges Video dieser Aktion auf Facebook online.

Am 1. Juli 2019 musste er sich dafür am Landesgericht für Strafsachen Wien wegen Herabwürdigung religiöser Lehren nach Paragraf 188 des Strafgesetzbuches (StGB) verantworten. Aufgrund notwendiger Übersetzungsarbeiten wurde die Verhandlung zunächst vertagt und dann erneut verschoben. Die Entscheidung sollte Ende 2019 fallen.

Religiöser Friede als Zweck

Paragraf 188 StGB ist ein Tatbestand, der nur selten zu Verurteilungen führt. Zwischen 2016 und 2019 schwankte die Zahl zwischen zwei und sechs, 2020 gab es eine einzige. Zum Vergleich: 2020 kam es zu 56 Verurteilungen wegen Beleidigung und 18 Verurteilungen wegen Verhetzung, 2017 gab es sogar 98 Verurteilungen wegen Verhetzung. Anhand der Anklage gegen U. in einer Zeit, in der öffentlich häufig über Kritik an Religion und deren Grenzen diskutiert wird, liegt es aber nahe, sich Paragraf 188 näher anzusehen. In welchen Fällen wird er angewandt? Und kann mit seiner Hilfe in einer Zeit des grassierenden antimuslimischen Rassismus der religiöse Friede in der Gesellschaft gefördert werden – so immerhin das Ziel der Norm?

"Normale Durchschnittsmenschen"

Der Tatbestand der Herabwürdigung religiöser Lehren wurde 1975 im Zuge der Strafrechtsreform eingeführt und löste den 1852 eingeführten Paragrafen 303 Strafgesetz, die "Beleidigung einer gesetzlich anerkannten Kirche oder Religionsgemeinschaft" ab, dem wiederum sehr viel strengere Straftatbestände vorausgegangen waren. Schutzobjekt des Paragrafen 188 ist nicht etwa Gott oder die Religion an sich, sondern der religiöse Frieden. Bei der Herabwürdigung religiöser Lehren geht es aber nicht darum, ob tatsächlich jemand beleidigt wurde, also "berechtigtes Ärgernis" erregt wurde, wie es im Gesetz heißt. Es genügt schon, wenn das Verhalten dazu geeignet ist, derartige Ärgernis zu verursachen. Aber wie stellt man das fest? Einhelliger Tenor, auch im Wiener Kommentar zum StGB: Die Eignung, Ärgernis zu erregen, bestimmt sich am Gefühl des "normal empfindenden Durchschnittsmenschen".

Vom Gespenst im Rechtsstaat zum Freiheitlichen Bildungsinstitut

Eine der ersten Anklagen nach Paragraf 188 StGB betraf Anfang der 1980er-Jahre den Spielfilm "Das Gespenst" von Herbert Achternbusch. Ein Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Graz aus dem Jahr 1984 wurde später auch vom Oberlandesgericht (OLG) bestätigt, denn: Die "geradezu närrische Darstellung des herabgestiegenen Gekreuzigten, der die Aufforderung besoffener Polizisten, ihnen Exkrement zu besorgen, ernst nimmt und (...) wiederholt um 'Scheiße' bettelt", erfüllte auch laut OLG den Tatbestand der Herabwürdigung religiöser Lehren. Der Wiener Richter Bruno Weis besprach in diesem Kontext Pragraf 188 und stellte die Frage, wann Ärgernis "berechtigt" ist. Er stellt dabei die Definitionen infrage, die von "religiös normal empfindenden Durchschnittsmenschen" sprechen: "Wie empfinde ich 'religiös normal'?"

Weis hält den Tatbestand für die Rechtsprechung ungeeignet, weil er fast ausschließlich aus unbestimmten Gesetzesbegriffen und normativen Tatbestandsmerkmalen bestehe und so Rechtsunsicherheit Tür und Tor öffne. 1985 wurde in einem ähnlichen Fall durch Entscheidung des LG Innsbruck, bestätigt durch das OLG Innsbruck, der Film "Das Liebeskonzil" beschlagnahmt, weil dieser den "Gottvater (als) senilen, impotenten Trottel, Christus geradezu als Kretin" darstelle. Diese Entscheidung wurde auch vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) bestätigt. Der Gerichtshof sah den Eingriff in Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), der Freiheit der Meinungsäußerung, als berechtigt an, da die Achtung religiöser Gefühle von Gläubigen, die wiederum in Artikel 9 der Konvention verbrieft ist, als verletzt angesehen werden könne.

Buddhismus und Islam als Zielscheiben

Eine der jüngeren Verurteilungen nach Paragraf 188 betraf einen Mann, der 2012 in Niederösterreich an 1.620 Haushalte Flugblätter verteilen ließ, in denen der Buddhismus als "menschenverachtende Ideologie" bezeichnet worden und in die Nähe von Pädophilie, Kannibalismus und Nationalsozialismus gerückt worden sei. Einen Erneuerungsantrag wies der OGH als unbegründet zurück.

Ebenso bejahte der OGH eine Verurteilung nach Paragraf 188 StGB, als jemand auf Facebook das Foto eines Schweins postete und dazuschrieb: "Das heilige Tier der Mohammedaner. Manche behaupten, es sei die Reinkarnation des Propheten."

Politisch brisant war der Prozess um Elisabeth Sabaditsch-Wolff. Sie hielt 2009 für das Freiheitliche Bildungsinstitut Vorträge, in denen sie dem Propheten Mohammed nachsagte, er habe "gerne etwas mit Kindern gehabt". Nachdem sie von Verhetzung nach Paragraf 283 StGB freigesprochen worden war, erkannte das LG für Strafsachen Wien sie für schuldig, Paragraf 188 StGB erfüllt zu haben, da sie den Propheten bewusst einer verpönten sexuellen Präferenz bezichtigt habe. Dabei handelte es sich laut OGH um "jenseits der Grenzen kritischer Werturteile liegende Wertungsexzesse". Der EGMR sah auch in diesem Fall Art 10 EMRK nicht als verletzt an.

120 Stunden gemeinnützige Arbeit als Diversion

Die Strafsache gegen U. ging im November 2019 zu Ende, nachdem der Rest des Videos übersetzt worden war und ihn nicht entlasten konnte. Es kam aber zu keiner Verurteilung, das Verfahren wurde durch eine Diversion beendet. 120 Stunden gemeinnützige Leistung musste U. erbringen.

Gerade im Kontext der regelmäßig auftretenden Diskussionen über Hetze gegen den Islam wird Paragraf 188 StGB Thema bleiben. Offen ist dabei allerdings, ob der Orchideentatbestand eine Renaissance erfährt oder im Gegenteil bei zukünftigen strafrechtlichen Novellen die Frage auftaucht, ob die Norm angesichts der seltenen Anwendung tatsächlich noch von den "normal empfindenden Durchschnittsmenschen" als notwendig angesehen wird. (Levin Wotke, 7.8.2022)