Anthony Hopkins in seiner Rolle als Hannibal Lecter wurde zum filmischen Parade-Psychopathen. Im täglichen Leben sind psychopathisch agierende Menschen nicht so lebensgefährlich – aber sie können langfristig massives psychisches Leid bei ihren Mitmenschen anrichten.

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Sonne, azurblauer Himmel und Zikadenzirpen. Plötzlich beängstigende Stille. Wachteln schrecken auf, es knallt mehrere Male – und eine Familie fällt tödlich getroffen zu Boden. Aus dem Gestrüpp treten finstere Gestalten, der Anführer, ein klassischer Schurke, lässt den Blick teilnahmslos über die Toten schweifen. Ein Soziopath wie aus dem Lehrbuch? Ja und nein, denn dieses Bild aus Hollywood, hier eine Szene aus Once Upon a Time in the West, verstellt die Sicht auf das gewöhnliche Böse – jenes Verhalten von Menschen, das uns den Alltag zuweilen zur Hölle macht.

Diese Meinung vertritt die US-amerikanische Psychologin und Bestsellerautorin Martha Stout in ihrem neuen Buch Der Soziopath von nebenan: So überlisten Sie ihn (Springer-Verlag). Es ist nicht das erste Mal, dass Stout mahnt: Sozio- oder Psychopathen – sie verwendet den Begriff synonym, nicht immer zur Freude der Psychiaterinnen und Psychologen – treiben nicht nur in den Kinos ihr Unwesen. Vielmehr mache uns das Medium blind für das alltägliche Böse. Die Botschaft, dass der nächste Mensch, der uns das Leben schwer machen könnte, direkt vor der Haustür lauert, ist nicht von der Hand zu weisen. Etwa jeder hundertste Mensch, der uns begegnet, ist frei von Gewissen.

Emotionsräuber direkt vor unserer Nase

Gefühlskalt, aggressiv, manipulierend, verantwortungslos, egozentrisch, impulsiv, chronisch unehrlich und einiges mehr, gepaart mit einem kuriosen, oberflächlichen Charme, steht auf der charakterlichen Visitenkarte des Durchschnittspsychopathen. Dabei schreckt er nicht vor schlimmsten amoralischen Taten zurück, wenn sie seinem Vorteil dienen. Nur eines will er nicht: unnötig auffallen.

Der Löwenanteil der Psychopathen bleibt unter dem breiten Wahrnehmungsradar und treibt seine Machenschaften bevorzugt im privaten Umfeld. Der Bösewicht aus den James-Bond-Filmen, der die Weltherrschaft an sich reißen will, ist eine Fiktion, die uns für die Soziopathen direkt vor der Nase blind macht. Dabei sind genau die es, die uns gezielt verängstigen, wütend machen und, weil sie selbst in der Gemütswüste leben, jegliche Emotionen absaugen. Zudem sind diese Gefühlsvampire paktunfähig und agieren außerhalb gesunder zwischenmenschlicher Vereinbarungen.

Soziopathen sind prinzipiell Teil der Gesellschaft, sie sind nicht notgedrungen kriminell und müssen nicht wie die cineastischen Superschurken hochintelligent sein. Simpel formuliert: Nicht alle Kriminellen sind Psychopathen, und nicht alle Psychopathen sind kriminell. Vielmehr ist es so, und jetzt werden viele wissend nicken, dass Psychopathen in einigen achtbaren Berufen durchaus erfolgreich sind, in Chefetagen fallweise überproportional vertreten. Mitunter liegt die Quelle des Erfolgs darin, verstaubte Regeln über Bord zu werfen – im Brechen von Konventionen sind Psychopathen Weltklasse.

Das Böse an sich existiert gar nicht

Es ist daher bemerkenswert, wenn Stout in ihrem Buch umschwenkt und schreibt: Das Böse an sich existiert eigentlich nicht. Es sei vielmehr da, weil etwas fehlt, es wuchert aus einem emotionalen Loch, das dort klafft, wo für gewöhnlich Gewissen, Empathie und Moral beheimatet sind. Was das genau ist, ob es sich um ein anerzogenes oder ein (Hirn-)strukturelles Defizit handelt, dem kommen Neurologinnen, Psychiater und Psychologinnen langsam auf die Spur: So konnten mithilfe bildgebender Verfahren wie der Magnetresonanztomografie Verschaltungen bei Hirnstrukturen identifiziert werden, die bei Psychopathen still bleiben, während sie bei Normaldenkenden losfeuern, sobald sie Leid beobachten oder Mitgefühl spüren.

Der forensische Experte Thomas Stompe, Oberarzt an der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Med-Uni Wien und in der Justizanstalt Göllersdorf, will aber nicht allein strukturelle Defizite als Ursache einer dissozialen beziehungsweise antisozialen Persönlichkeitsstörung, wie es fachlich heißt, sehen, sondern auch Umwelteinflüsse. Er bevorzugt den Begriff des moralischen Selbst, das aus kognitiven und emotionalen Anteilen, also bewussten und unbewussten Facetten, besteht: "Im gefühlsdominierten, überwiegend angeborenen Teil finden wir Schuld, Scham, moralischen Ekel und Empathiefähigkeit. Der kognitive Beitrag, der stärker von Umwelt und Familie geprägt wird, ist über die Lebenszeit hinweg in einem Schwankungsbereich wandelbar. Im Alter verliert der dissoziale Anteil an Einfluss, während der gefühlsbetonte Bereich sein Gewicht behält."

Helden der Kompanie, besessene Partner

Weitere Auffälligkeiten gibt es bei unbewusst ablaufenden, vegetativen Prozessen. So bleiben viele Psychopathen in gefährlichen Situationen gefühlskalt, was ihnen hilft, ihre Ängste zu kontrollieren. Das, gepaart mir Empathielosigkeit, macht sie zu mustergültigen Söldnern. "Das könnte die Frage beantworten, weshalb es aus evolutionärer Sicht diese Persönlichkeitsstruktur überhaupt gibt, die ja für eine Gesellschaft viele Risiken birgt", sagt Stompe.

Aber warum gehen diesen Emotionsfressern so viele auf den Leim, egal ob sie als Heiratsschwindler, Trick- oder Anlagebetrüger auftreten? Das Geheimnis dahinter nennt sich Isopraxismus beziehungsweise reflexhaftes Spiegeln. Hierbei wird das Verhalten des Gegenübers unwillkürlich nachgeahmt: Mimik, Gestik, Körpersprache, Sprachmelodie, Wortwahl und selbst die Atemfrequenz – ein Mysterium, das normalerweise bei Frischverliebten auftritt. Das Opfer merkt gar nicht, dass auf diese Weise ein Feuer tiefen Vertrauens entfacht wird, eines, das zum Brand werden kann, denn Psychopathen lieben nicht, dennoch können sie gefährlich eifersüchtig sein, da sie die Partner als Besitz betrachten.

Werden die moralisch Verrückten durchschaut, spielt sich laut Stout ein typisches Repertoire ab: Unschuldsbeteuerungen ("Warum sollte ich so agieren?"), gefolgt vom Mitleidsspiel ("Ich habe ständig Suizidgedanken, und deine Vorwürfe machen alles nur schlimmer!") und schließlich, falls man sich weiterhin wehrt, verfällt der Psychopath in übersteigert-groteske Wutanfälle und droht mit Gewalt. Der Kampf mit ihnen ist erbarmungslos, dabei ziehen sie ihre Konkurrenten auf ihre Schlammebene und schlagen sie dort mit der Erfahrung von Skrupellosen.

Stout nennt in ihrem Buch daher zehn Grundregeln, von denen Dr. Stompe die sechste speziell gefällt: Gewinnen Sie die Unterstützung anderer! Das funktioniert vor allem mithilfe einer Dokumentation, die möglichst lückenlos die Machenschaften des Psychopathen erfasst. "Was immer Personen mit einer dissozialen Persönlichkeitsstörung anstellen, es sollte publik gemacht werden, egal ob innerhalb der Familie, Firma oder sonstiger Öffentlichkeit. Eine wichtige Botschaft möchte ich noch allen Menschen mitgeben: Verabschieden Sie sich von dem Gedanken, man könne Psychopathen ändern. Liebe, Verständnis und Geduld werden niemanden mit dieser Persönlichkeitsstörung umformen. Jeder Versuch ist zum Scheitern verurteilt!" (Raoul Mazhar, 7.8.2022)