Mahnwache für Lisa-Maria Kellermayr am Wiener Stephansplatz.

Foto: Robert Newald

"Dies ist die Realität, es gibt hier keine Fiktion. Es gibt keine alternativen Fakten. Sie haben das absolute Recht, zu denken und zu glauben, was Sie so unbedingt wollen. Sie haben kein Recht, anderen Bedrohungen zu übermitteln." Diese Sätze stammen aus dem Gerichtsurteil gegen eine Anhängerin des US-amerikanischen Verschwörungsfanatikers Alex Jones. 2017 wurde Lucy Richards zu fünf Monaten Gefängnis verurteilt, weil sie den Vater eines der Opfer des Sandy-Hook-Schulmassakers bedroht hatte.

Sie tat dies, weil sie den Lügengeschichten von Alex Jones glaubte, der in seiner Radioshow über Jahre behauptete, die Familien der ermordeten Kinder seien bezahlte Schauspielerinnen und Schauspieler. Mit seinem menschenverachtenden Verschwörungsmüll hat Jones Millionen verdient und den Hinterbliebenen unermessliches Leid zugefügt. Er hat eine jahrelange Hetzjagd auf die Angehörigen ermordeter kleiner Kinder befeuert, die sich, anstatt in Ruhe trauern zu können, vor den Lügen und den Gewaltandrohungen eines aufgestachelten Mobs in Sicherheit bringen mussten. Dafür muss sich Jones gegenwärtig in zahlreichen Gerichtsverfahren verantworten.

Hundertfach bedroht

Aber dabei kann man es nicht bewenden lassen, wenn man verstehen will, wohin wir uns gesellschaftspolitisch entwickeln. Und ganz sicher genügt es nicht, um zu begreifen, warum der Ärztin Lisa-Maria Kellermayr hundertfach mit Folter und Mord bedroht wurde, bevor sie es nicht mehr ertragen konnte. Wieso die Politikwissenschafterin Natascha Strobl mit Todesdrohungen gegen sich und ihre Kinder überschüttet wird. Weshalb die Privatadresse der Autorin Jasmina Kuhnke im Netz veröffentlicht wird, während man ihr und allen anderen Betroffenen ernsthaft rät, sich bedeckt zu halten und "doch mal nicht so zu haben". Schließlich bekämen die ja alle. Das sei nun einmal der Preis, den man zu bezahlen habe, wenn man sich in der Öffentlichkeit befinde.

Nein, ist es nicht. Das ist der Preis, der insbesondere progressiven Frauen im Angesicht unseres lähmenden Desinteresses für ihre schlichte Existenz abverlangt wird. Und wir alle tragen dazu bei. Wir wollen und können einfach nicht wahrhaben, dass Leute wie Alex Jones sich für gute Menschen halten. Für aufrechte Patrioten, die das Richtige tun. Für liebende Familienväter, die die Werte ihres Landes und ihrer Religion verteidigen. Für jemanden, der einfach nur die Wahrheit sagt.

Weil wir selbst mehrheitlich nicht das geringste Interesse daran haben, für unser tatsächliches Verhalten zur Verantwortung gezogen zu werden, bemänteln wir die widerlichen Worte und Taten anderer großzügig mit unserer Verantwortungslosigkeit. Wir öffnen das Feld des Sag- und Machbaren für immer größere Lügen und Übergriffigkeiten, damit wir uns in unseren eigenen kleinen und mittleren Verwerflichkeiten weiter für gute Menschen halten können.

Alles, was wir dafür tun müssen, ist, das als Übertreibung zu markieren, wozu wir uns nicht aufraffen wollen: Klimaschutz. Gleichberechtigung. Inklusion. Antirassismus. Lächerliches Gutmenschentum eben. Zugleich normalisieren wir den Exzess: So schlimm ist das ja nicht. Das wird man ja wohl noch sagen dürfen. Wir übertreiben alle manchmal.

Pulverisierter Restanstand

Um das zu bewerkstelligen, behaupten wir für uns und andere, wir würden in moralisierenden Zeiten leben. Sie wissen schon: Sprachpolizei, Gender-Gaga, Nazikeule, Rassismusverdacht, Klimadiktatur. Tatsächlich aber geht es uns darum, mit minimalem Anstand und maximaler Haltungslosigkeit weiterzumachen wie bisher. Weiter zu konsumieren, weiter zu ignorieren, weiter zu diskriminieren. Weil wir zu bequem sind, um uns gegen die eigene Demoralisierung aufzuraffen, zeigen wir mit dem Finger auf diejenigen, die genau das von uns verlangen. Zugleich verteilen wir Freifahrtscheine an diejenigen, die in Wort und Tat unseren Restanstand pulverisieren. Das Problem an Leuten wie Alex Jones sind letztendlich immer auch wir. "Die größte Bedrohung für die Meinungsfreiheit ist aus meiner Sicht inzwischen die Zensurkultur", sagte der CDU-Chef Friedrich Merz kürzlich in einem Interview.

Das ist falsch. Die größte Bedrohung für die Meinungsfreiheit ist, dass Lisa-Maria Kellermayr in den Tod getrieben wurde. Dass einem jungen Studenten hinter einer Tankstellenkasse dafür ins Gesicht geschossen wurde, dass er einen Kunden an die Maskenpflicht erinnert hat. Dass Natascha Strobl, Jasmina Kuhnke und viel zu viele andere mitten unter uns ihres Lebens nicht mehr sicher sind. "Dieser Hass muss endlich aufhören", heißt es nun wie so oft. Das wird er aber nicht, wenn wir nicht endlich anfangen, uns so zu haben. Solange wir Täter dazu einladen, im Schatten unserer Bequemlichkeit mehr und mehr zu hassen, wird es niemals enden. Solange wir uns einreden, dass die Grenze in all dem nicht klar zu ziehen ist, wird es weitergehen. Denn wo die Grenze liegt, ist vollkommen klar: Dies ist die Realität, es gibt hier keine Fiktion. Es gibt keine alternativen Fakten. Alle haben das absolute Recht, zu denken und zu glauben, was sie so unbedingt wollen. Niemand hat das Recht, andere zu bedrohen. (Nils Pickert, 7.8.2022)