Eine Künstlerin mit einer langen Karriere tut gut daran, möglichst nie etwas wegzuwerfen. Alles kann sich irgendwann noch als nützlich erweisen, vor allem, wenn man sich in späten Jahren verstärkt auf Arbeiten mit Textil verlegt. So war es bei Louise Bourgeois (1911–2010). Kurz vor ihrem Tod entstand eine ihrer intimsten Arbeiten: Eugenie Grandet, eine Serie kleinformatiger Arbeiten auf Tuch, in denen sie sich ein Bild von der Figur aus dem gleichnamigen Roman von Balzac machte – die Tochter eines extrem geizigen Reichen, der ihr keine Chance auf Entfaltung gibt. Eine Identifikationsfigur für die Künstlerin, die sich mit einem vergleichbaren Vaterschicksal konfrontiert sah.

Bourgeois verwendete für die 16 Bilder, die sie aus Stofftaschentüchern und Geschirrtüchern fertigte, ihre eigene Wäscheaussteuer, die sie aus Frankreich nach New York gebracht und mehr als 70 Jahre aufgehoben hatte. So schließen sich in dieser späten Arbeit mehrere Kreise: ein autobiografischer und ein materialästhetischer. Denn Frauen wurde ihre Bestimmung eben lange Zeit nicht nur in die Wiege gelegt, sondern vor allem bei der Hochzeit mit Bettzeug und Tischtüchern noch einmal deutlich gemacht.

Dass Louise Bourgeois häufig mit Stoff und Faden arbeitete, hat mit ihrem Aufwachsen in einem Textilbetrieb zu tun. Hier das späte Werk "The Good Mother" (2003).
Foto: The Easton Foundation / VG Bild-Kunst, Bonn 2021 / Christopher Burke

Im Grunde kann man in der kleinen Serie zu Eugenie Grandet auch schon den Titel der Schau angelegt erkennen, die diesen Sommer im Gropiusbau in Berlin einen faszinierenden Überblick über das textile Spätwerk von Louise Bourgeois gibt: The Woven Child. Das gewebte oder verwobene Kind, da ist die Geschlechterrolle noch nicht festgelegt. Das Kind kann sich fügen, oder es kann sich emanzipieren.

Erotische Motive ersetzen

Bourgeois selbst wuchs in einer Familie auf, die Tapisserien restaurierte, also Wandteppiche mit Bildmotiven. In einem Interview hat sie einmal davon gesprochen, dass es zu den Aufgaben dieses Betriebs gehörte, erotische Motive durch unverfänglichere zu ersetzen. Die in Wolle gestickten Geschlechtsteile landeten bei der Tochter, die im Betrieb mitarbeitete und schon früh in Praktiken verstrickt wurde, auf die sie später, nach ihrer phänomenal erfolgreichen Karriere als eine der wichtigsten Künstlerinnen der Gegenwart, wieder zurückkam.

Bourgeois wurde vor allem mit zum Teil sehr großen Skulpturen bekannt. Eine davon kriegt man auch im Gropiusbau zu sehen, eine Spinne. Das ist dann aber eher ein Akzent in Richtung des geläufigeren Images der Künstlerin.

Die Ausstellung davor ist zum Teil sehr intim, und es lohnt sich, ein Auge auf die kleine Papierarbeit Spit or Star (1986) zu werfen, in der es um die Faszination für Scheren geht – im Kontext von The Woven Child ist das eine Art Vorzeichen, ein Blick in ein imaginäres Nähkästchen, den auch eine Arbeit wie Mending (1989) bekräftigt: "Ausbessern" verweist nicht zuletzt auf eine Zeit, in der Socken noch gestopft wurden.

Spinnen, wie diese von 1997, gehören zu Louise Bourgeois' bekanntesten Motiven.
Foto: The Easton Foundation / VG Bild-Kunst, Bonn 2022 / Erika Ede

Man bekommt im Gropiusbau aber auch viele Skulpturen zu sehen, viele davon hängen von der Decke oder befinden sich in anderen Formen von Aufhängung, zum Beispiel ein Körper aus gestreiftem Stoff, bei dem Beine und Kopf gleichermaßen nach unten fallen, sodass der Rücken die Streckung festhalten muss. Bourgeois nennt diese Skulptur Arch of Hysteria ("Bogen der Hysterie"), eine ironische Bezeichnung für eine Pose, die äußerste Passivität und Hingabe andeutet, und zwar bei einem Männerkörper.

Ausdrucksstarke Köpfe

Die handwerkliche Brillanz von Bourgeois’ Arbeiten zeigt sich nicht zuletzt in zahlreichen Köpfen, die sie auch alle aus Stoff fertigte: Das Material widersetzt sich ja eher einer konkreten Bearbeitung, oder es tendiert nicht ins Fixierte, und doch entstanden im Lauf der Jahre zahlreiche ausdrucksstarke Köpfe, in denen psychische Zustände ebenso aufscheinen wie Bezüge auf die figurative Kunstgeschichte.

An anderer Stelle reichen ein paar einfache Stoffblumen auf Leinwand, um einen Tag der Versöhnung anzudeuten – immer wenn sie einen Titel für ihre Arbeiten wählt oder andeutet, ist es ein sehr offener, der zu starken Assoziationen einlädt. Spannend ist es auch, bestimmte Motive durch die Ausstellung The Woven Child hindurch zu verfolgen. Zum Beispiel zeigt Bourgeois immer wieder Uhren oder Zifferblätter, wobei sie in Eternity (2003) deutlich macht, dass "ewig" vor allem die Zyklizität der Reproduktion ist – das Rein-raus-Spiel, aus dem sich die Evolution der biologischen Gattung Mensch ergibt, die sie auf "ewig" setzt.

Mit diesen Bezügen auf grundlegende Prozesse der geschlechtlichen Existenz hätte Bourgeois auch in einen trivialen Naturalismus verfallen können. In The Woven Child aber macht gerade das virtuose Wechselspiel zwischen Techniken, die für Frauen lange als natürlich ausgegeben wurden, und ihrem verfremdenden Umgang damit die Öffnung auf eine emanzipierte, enorm souveräne Praxis aus. (Bert Rebhandl, 6.8.2022)