Die Ärztin Natalie Grams-Nobmann sagt im Gastkommentar: "Wir sind an einem Punkt angekommen, wo wir es auf gar keinen Fall so weiterlaufen lassen können wie bisher. Es muss mehr geben als tiefe Bestürzung und Solidaritätsbekundungen!"

Die Autorin dieses Beitrags hat sich von Twitter zurückgezogen.
Illustration: Eva Schuster

Nun ist der schreckliche Tod von Frau Dr. Lisa-Maria Kellermayr schon wieder einige Tage her, der erste Schock abgeflaut, die Menschen und Medien wenden sich anderen wichtigen Themen zu. Ich selbst bin nach wie vor mit einem Nicht-begreifen-Können dessen konfrontiert, was da vor unser aller Augen geschehen ist. Mehr und mehr schiebt sich aber die Frage in den Vordergrund, was anders werden müsste, um eine Wiederholung eines solchen Desasters zu verhindern.

Bis es darauf befriedigende Antworten gibt, halte ich mich von sozialen Plattformen fern. Zu gefährlich ist die Aufklärungsarbeit, die Vermittlung des wissenschaftlichen Kenntnisstands geworden. Gerade für die sachlich Bemühten, die versuchen, nicht ins Persönliche, Hämische oder gar Schlimmeres abzugleiten. Was also müsste passieren, damit meine Kolleginnen, Kollegen und ich uns in unseren Ordinationen, Kliniken, Instituten, Laboren und ja, auch in den sozialen Medien wieder sicher fühlen?

Neujustierung notwendig

Ich habe mich mit Expertinnen und Experten ausgetauscht, die über verschwörungsideologisch motivierte Gewalt forschen. Wir sind uns einig, dass es der Neujustierung wichtiger Punkte bedarf. Zunächst muss das Problem endlich ernst genommen werden. Wir brauchen schnellere und kundigere Ermittlungen bei digitalen Straftaten. Es muss endlich über wohlfeile Lippenbekenntnisse hinaus gerade Politik und Behörden klar sein, dass das Internet und soziale Medienplattformen keine rechtsfreien Räume sind. Es gibt ja Gesetze, die Menschen vor Beschimpfungen, Drohungen und Ehrverletzungen schützen sollen. Aber wer hat nicht schon mal den Eindruck gehabt, dass sie weniger wert sind, wenn es um die digitale Sphäre geht?

"Nie wieder möchte ich von den schützenden Instanzen hören müssen: 'Sie sind doch selbst schuld, exponieren Sie sich halt nicht so im Internet.'"

Krass abwertendes oder gar gewaltschürendes Verhalten darf nicht den Freibrief einer exzessiv interpretierten Meinungsfreiheit erhalten und ohne Konsequenzen bleiben, nur weil es irgendeinen "Sachbezug" aufweist. Hass ist nie eine schützenswerte Meinung. Und Gewaltandrohung – real oder im Internet – kein akzeptables Gebaren. Weder im sozialen Miteinander noch in der Rechtspraxis.

Gleichzeitig brauchen wir eine deutliche Stärkung von Opferberatungsstellen, von Hassmeldeportalen wie "Hassmelden", "Hate Aid" oder "Zara". Und dafür klare Gesetze und finanzielle Unterstützung, denn solche Einrichtungen wirken im öffentlichen Interesse. Solange es nicht gelingt, Menschen im Internet – und im echten Leben – zu schützen, müssen sie sich wenigstens nach einem Übergriff professionelle Hilfe holen können. Und nie wieder möchte ich von den schützenden Instanzen hören müssen: "Sie sind doch selbst schuld, exponieren Sie sich halt nicht so im Internet."

Prävention und Aufarbeitung

Was uns auch klar werden muss: woher der Hass kommt. Wir haben zwar seit zweieinhalb Jahren eine Pandemie, die Hass und Gewaltbereitschaft sehr sichtbar gemacht hat, aber trotzdem wissen wir nicht genug von den Ursprüngen, weil wir das bislang viel zu wenig stringent erforschen. Wie wollen wir dann dagegen vorgehen können? Konsequent müssen auch Schnittmengen zu rechtsextremen Bedrohungsszenarien benannt werden. Nicht nur ich frage mich, warum zumindest in Deutschland gerade jetzt Mittel zur Rechtsextremismusforschung gestrichen werden.

Genauso wichtig wie die Aufarbeitung der letzten Monate und natürlich des speziellen Falls von Frau Kellermayr erscheint mir die Prävention. Wie können wir verhindern, dass der Hass lauter und lauter wird? Was können wir dem entgegensetzen und wie das dann auch durchsetzen? Wie können wir schon Kindern vermitteln, was ein adäquater Umgang mit anderen Menschen im Netz ist und das auch Erwachsenen noch beibringen, die das offenbar nie begriffen haben? Es wird ein langer Weg werden, keine Frage. Aber wir sind an einem Punkt angekommen, wo wir es auf gar keinen Fall so weiterlaufen lassen können wie bisher. Es muss mehr geben als tiefe Bestürzung und Solidaritätsbekundungen!

"Wir alle können zur Deeskalation beitragen, uns selbst mäßigen und andere zu Mäßigung aufrufen."

Doch wir können die Verantwortung nicht nur an die Politik, die Plattformen und insgesamt nach außen richten, auch wir selbst können etwas tun, was ich bitte nicht als stillen Vorwurf verstanden wissen möchte: Wir alle können zur Deeskalation beitragen, uns selbst mäßigen und andere zu Mäßigung aufrufen. Wir können uns Hass entgegenstellen, Menschen unterstützen, die angegriffen werden, ohne selbst anzugreifen, wir können Hass und Unrecht melden. "Soziale Medien" heißen ja nicht nur einfach so, sie sind ein Abbild unseres eigenen sozialen Vermögens, das wir dort investieren. Es kann nicht sein, dass erst Menschen den Tod finden müssen, damit uns das wirklich – bei jedem einzelnen Post – bewusst wird.

Klare Regeln, konsequente Umsetzung

Gerade die, die lauthals eine vermeintliche Unterdrückung ihrer Meinungsfreiheit reklamieren, sind oft außerstande, die freie Äußerung anderer auszuhalten und lassen Hass und Hetze freien Lauf. Ich habe selbst erfahren, wie geradezu verroht persönliche Drohungen sein können – online wie offline. Das können wir nicht länger mit einem resignierten Kopfschütteln hinnehmen. Mahnen wir bei den Plattformen klare Regeln und konsequente Umsetzung an, fordern wir Gesetzgebende auf, das Problem ernst zu nehmen, erklären wir Behörden, Polizei und Justiz, was wirklich vonnöten ist, um nicht nur uns Betroffene, sondern die freiheitliche Gesellschaft zu schützen!

Der Schock durch den Suizid meiner österreichischen Kollegin und die unglaublich hämischen und entwürdigenden Kommentare so vieler machen es mir momentan unmöglich, in guter Weise am Soziale-Medien-Miteinander im Netz teilzunehmen. Ich möchte eigentlich nur noch schreien ob der Ungerechtigkeit und all der Unmenschlichkeit! Wenn ich in den sozialen Medien unterwegs bin, möchte ich das aber sachlich und mit kühlem Kopf tun. Solange der Schrecken – auch über das Unvermögen der Institutionen und Plattformen, uns zu schützen – so tief sitzt, kann ich es nicht. Nicht mehr. Ich wünsche Ihnen, dass Sie es können. (Natalie Grams-Nobmann, 6.8.2022)