Israel hatte am Wochenende Ziele im Gazastreifen bombardiert. Militante Palästinenser griffen israelische Städte mit Raketen an.

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Knapp 600 Raketenangriffe auf Israel seit Freitag, 31 Tote unter den Palästinensern: Das ist die vorläufige Bilanz am Tag drei der israelischen Operation im Gazastreifen. Israel hatte Freitagabend überraschend Ziele der Terrororganisation Palästinensischer Islamischer Jihad (PIJ) im Gazastreifen beschossen. Seitdem waren die Menschen dies- und jenseits der Grenze zwischen Israel und dem palästinensischen Gazastreifen ständigem Beschuss ausgesetzt, wobei die israelische Armee betont, nur militärische Ziele anzugreifen.

Zwei hochrangige PIJ-Führer im Gazastreifen wurden bei gezielten Angriffen getötet, auch ein regionaler PIJ-Kommandant im Süden des Gazastreifens kam laut Armeeangaben ums Leben. Zugleich gingen israelische Streitkräfte in mehreren Städten im Westjordanland gegen PIJ-Strukturen vor.

Ob eine Feuerpause halten würde, die am Sonntag ausgehandelt wurde und Medienberichten zufolge ab 20 Uhr Ortszeit (19 Uhr MESZ) gelten sollte, war vorerst unklar. Dies gilt insbesondere, nachdem am selben Abend auch die Tötung eines Hamas-Mitgliedes durch die israelische Armee publik wurde. Nun sollen Israel und der Islamische Jihad die Luft- und Raketenangriffe ab 23.30 Uhr (22.30 Uhr MESZ) einstellen. Das verkündeten Sicherheitskreise in Kairo. Der Islamische Jihad betonte jedoch sein Recht, auf jegliche neue "Aggression" Israels zu reagieren. Am Abend war eine hochrangige ägyptische Delegation in Gaza eingetroffen, um über Details der möglichen Waffenruhe zu verhandeln.

In der israelischen Küstenmetropole Tel Aviv heulten Sonntagabend indes die Alarmsirenen. Einwohnerinnen und Einwohner der Stadt am Mittelmeer eilten in Schutzräume.

"Morgendämmerung" – so nennt die Armee den Einsatz, der diesmal nicht mit einem Vergeltungsschlag begann, sondern mit einem israelischen Luftangriff. Laut Armee war es ein Präventivschlag: Geheimdienste hätten klare Hinweise auf eine drohende Attacke in den nächsten Tagen gegeben, sagt ein Armeesprecher in einem Journalistengespräch.

Organisation schwächen

Das Kalkül der Israelis war eigentlich: Die Terrororganisation Islamischer Jihad zu schwächen, ohne die im Gazastreifen herrschende Hamas in die Eskalation hineinzuziehen. Knapp 15 Monate nach der letzten elftätigen kriegerischen Auseinandersetzung, die dem militärischen Flügel der Hamas massive Einbußen in seiner Kapazität brachte, ist die Organisation geschwächt. Hamas müsse sich davon erst erholen, sie habe kein Interesse an einem neuerlichen Krieg, pflegen israelische Militärs zu betonen. Tatsächlich wurden bisher laut israelischen Angaben alle Raketenbeschüsse vom PIJ verübt. Die Frage ist, was passiert, wenn sich das Kalkül der Armee als fehlerhaft erweist und Hamas ihre passive Haltung aufgibt.

Je länger die Operation dauert, desto größer ist das Risiko, dass sie außer Kontrolle gerät. Schon jetzt wird im Gazastreifen massive Kritik an der Hamas-Führung laut. "Ihr lasst Frauen und Kinder in Gaza allein", wirft ein User Hamas-Führer Ismail Haniyeh vor. Jeder weitere Tag, jedes weitere tote Kind werde den Druck verstärken.

Am Sonntag meldete sich ein Hamas-Sprecher zu Wort. In Richtung Israel sagte er, man könne die aktuelle Situation im Gazastreifen "nicht akzeptieren".

Öl ins Feuer

Wie in angespannten Zeiten üblich, bemühte sich der rechtsextreme israelische Politiker Itamar Ben Gvir auch diesmal, zusätzlich Öl ins Feuer zu gießen, um sich auf Kosten der nationalen Sicherheit ein paar Minuten medialer Aufmerksamkeit zu gönnen – schließlich wird im Herbst gewählt. Am Morgen des Sonntags, an dem der religiöse Feiertag Tisha B'Av begangen wurde, setzte er demonstrativ einen Schritt auf den Tempelberg. Als Ben Gvir an Gruppen von Muslimen nahe der Al Aqsa-Moschee vorbeiging, begrüßte er sie mit dem Victory-Fingerzeichen und rief: "Das Volk Israel lebt!", worauf die anwesende Menge mit "Allah u Akbar" antwortete.

Indessen bemühen sich die Mediatoren im Nahen Osten um ein Ende der Auseinandersetzung. UN-Nahostkoordinator Tor Wennesland bezeichnet die Eskalation als "sehr gefährlich". Die Menschen im Gazastreifen seien schon jetzt unterversorgt, der neue militärische Konflikt komme noch dazu in einer Zeit, in der die Welt wegen der Ukrainekrise nur begrenzte Ressourcen hat, um humanitäre Hilfe zu leisten. Die Lage ist bereits besorgniserregend: In Gaza fehlt es an Strom, da das örtliche E-Kraftwerk von Treibstofflieferungen abgeschnitten ist. Auch in den Krankenhäusern fehlt es an Material. Die unter ägyptischer Mediation ausverhandelte Feuerpause sollte dazu dienen, wenigstens Treibstoffnachschub und humanitäre Güter in den Gazastreifen bringen zu können.

Sicherheitsrat tagt

Der UN-Sicherheitsrat hält am Montag eine Sondersitzung zur Gaza-Eskalation ab. Auch in Israel mehren sich Stimmen, die sich für ein baldiges Ende der Operation im Gazastreifen aussprechen. Selbst der Chef des Inlandsgeheimdienstes Shin Beit soll laut israelischen Medienberichten in der Sitzung des Sicherheitskabinetts gemahnt haben, dass es nun Zeit sei, den Einsatz zu beenden, um zu verhindern, dass Fehler passieren, die den Konflikt ausweiten könnten.

Ob die Feuerpause hält und ob sie in einen Waffenstillstand mündet, ist offen. Die israelische Armee erklärt jedenfalls, sie habe den Großteil der Einsatzziele bereits erreicht, die Terrororganisation konnte militärisch und personell nachhaltig geschwächt werden. Dennoch plane man nicht, das Feuer einzustellen, sollte Israel weiterem Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen ausgesetzt sein, sagt ein Armeesprecher: "Ruhe wird mit Ruhe beantwortet." (Maria Sterkl auf Jerusalem, 7.8.2022)