Kinder brauchen Vorbilder, so auch Cornelia Diesenreiter, Mitbegründerin und Geschäftsführerin von Unverschwendet. Ihre Mutter huldigte einst dem oberösterreichischen Balkonblumengott, bepflanzte für ihn die Erde ihrer Kisterln mit Geranien, bis sich auch die letzten Bienen verabschiedeten. "Kann das sein?", fragte die Mutter, und ließ fortan der Natur ums Haus herum freien Lauf, manch gerümpfte Nachbarsnase in Kauf nehmend. Der Tochter aber gefiel’s. Sie sah, dass auch Mütter lernfähig sind, und hoffte insgeheim, dass es die ganze Menschheit sein möge.

In Salzburg studierte sie zunächst Recht und Wirtschaft, was ihr aber zu sehr "in Richtung Gewinnmaximierung und Effizienzsteigerung" ging. An der Boku in Wien hängte sie also noch ein Umwelt- und Bioressourcenmanagement-Studium an, "das komplette Kontrastprogramm mit leichter Schlagseite gegen Konzerne und Kapitalismus insgesamt". Alles gut und schön, dachte sie, "aber das allein bringt uns auch nicht wirklich weiter". In diesem Spannungsfeld musste sie sich also irgendwo in der Mitte positionieren und studierte – "großes Glück!" – in London noch Nachhaltiges Produktdesign.

Nachhaltigkeit und Wirtschaft

"Da kam alles zusammen", sagt sie begeistert. "Nachhaltigkeit plus wirtschaftliches Denken." Und dann passierte das: "Bei einer Restmüllanalyse wurden 1,5 Tonnen Haushaltsmüll vor uns ausgeleert", und sie haben den Haufen mit Sicherheitshandschuhen, Schaufeln und Pinzetten auseinandergenommen und geschaut, was die Menschen so alles wegschmeißen. Erschütterndes Resultat: "Von den 1.500 Kilo Haushaltsmüll waren 400 Kilo Lebensmittel!" Kein hartes, schimmeliges Brot freilich, keine vergessene Marmelade, sondern noch nicht abgelaufene Milch, frisches Obst und Gemüse dutzendkiloweise, hunderte Schokoosterhasen. "Ich war so berührt in diesem Moment", sagt sie, dass sie ihre Masterarbeit darüber schrieb und mit dieser im Gepäck nach Österreich zurückkehrte. Hier einen Job in diesem Bereich zu finden erwies sich allerdings als unmöglich, das Thema "Lebensmittelabfälle" interessierte schlicht niemanden.

Mit Marillen hat alles begonnen: Im ersten Jahr kochte Diesenreiter mehr als 32.000 Gläser Marmelade ein.
Foto: Imago Stock & People

Also musste sie – buchstäblich – selbst Hand anlegen und gründete 2015 zusammen mit ihrem Bruder Andreas den Verein Unverschwendet. Bald nahmen sie den ersten Anruf einer Bäuerin entgegen: "Wir haben Marillen, die wir nicht ernten können. Wollt ihr sie haben?" Sie wollten und fuhren mit einem alten Peugeot 206 in die Wachau, ernteten drei Stunden lang und packten alles in den Wagen. Mutter und Großmutter sind begnadete oberösterreichische Köchinnen, Marmelade einmachen war also für die Tochter und Enkelin eine leichte Übung.

Die Oma hat obendrein einen Bauernhof im Mühlviertel, wo sie alle Handgriffe – von der Ernte des Obstes bis zum Hineinstellen des Marmeladeglases ins Regal – lernte. In einer angemieteten Küche verkochte die Enkelin fortan gerettetes Obst und Gemüse zu Feinkost. Spätestens aber, als ein Bauer wegen fünf Tonnen Tomaten anrief, war klar, "dass es so nebenbei nicht gehen wird". Im März 2016 entschieden sie sich dafür, "es gscheit zu machen", gründeten das Unternehmen und kauften am Wiener Schwendermarkt einen frei werdenden Stand.

Cornelia Diesenreiter, Mitbegründerin und Geschäftsführerin von Unverschwendet, verkauft gerettetes Obst und Gemüse an ihrem Stand am Schwendermarkt in Rudolfsheim-Fünfhaus.
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In einer 15 Quadratmeter großen Küche im hinteren Teil des Marktstandes arbeitete Diesenreiter zunächst mit drei kleinen Herdplatten, ebenso vielen kleinen Töpfen und "unter Schweiß und Tränen und immer bis Mitternacht". Im ersten Jahr kochten sie 32.000 Gläser ein, Obst und Gemüse kamen von diversen kleinen Bauern aus der Umgebung Wiens, die ihnen einen reduzierten Preis für die Ware berechneten. In einem Minibackofen wurden jeweils 20 Gläser sterilisiert, in den Kombidämpfer, den sie danach kauften, passten dann immerhin schon 200 Gläser. Zucker kauften sie nach Supermarktpostwurfsendungen ("zwei plus eins gratis!"), die Gläser nahm Diesenreiter am Abend mit nach Hause zum Etikettieren und Beschriften, am Morgen ging es damit wieder zum Stand. "Bis jedes Regal gefüllt war."

Um wirtschaftlich zu arbeiten, hätte das Glas Marillenmarmelade freilich 15 Euro kosten müssen. Und die Ökobilanz bei solchem Produzieren? "Einerseits natürlich schlecht. Andererseits, wenn man bedenkt, was an Ressourcen verwendet werden müsste, um diese Mengen geretteter Lebensmittel wiederherzustellen, sehr gut."

Mit mittlerweile 20 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern konnte Unverschwendet seither immerhin 350 Tonnen Obst und Gemüse retten und zu Feinkost verarbeiten lassen. "Angeboten hat man uns aber schon über 10.000 Tonnen nur im Großraum Wien", sagt Diesenreiter, was sie zu den erschütternden Schätzungen des WWF bringt, die davon ausgehen, dass allein in der heimischen Landwirtschaft bei der Urproduktion 176.000 Tonnen Obst und Gemüse weggeschmissen werden.

Überproduktion beim Bauern

"Es wird in der Produktion weggeschmissen, im Supermarkt, in den Restaurants – und mit Abstand am meisten in den Haushalten", erklärt sie. "Der Supermarkt sagt zum Bauern, dass er in der Kalenderwoche 27 fünf Tonnen Tomaten von ihm braucht. Der weiß aber nicht, ob es bis dahin genug regnet oder zu viel. Also baut er 120 bis 160 Prozent der bestellten Menge an in der Hoffnung, zum Termin 100 Prozent liefern zu können. Kann er das nicht, wird er nicht mehr gelistet."

Oder wir Konsumenten: "Es gibt Gemüse- und Obstsorten, die essen wir nur bei bestimmtem Wetter – Wassermelonen. Wenn es im August aber bei 15 Grad regnet, kaufen wir das nicht mehr." Oder: "Alles, was du per Stück kaufst, muss der Größe nach genauen Angaben in Gramm entsprechen, die Zucchini zum Beispiel sind also alle mehr oder weniger gleich groß. Trotzdem greift jeder im Supermarkt jede Zucchini an und verletzt sie mit jedem Mal Angreifen, bis sie zum Wegschmeißen ist." Bewusstseinsbildung? "Schwer!"

Zunächst müsse man entlang der vorgelagerten Wertschöpfungskette viel pragmatischer handeln: "Wenn ich es nicht brauchen kann, nimmt du es – und mach was damit!" Darum wollen sie in Zukunft mit Unverschwendet auch wie eine traditionelle Börse arbeiten und Überschüsse zum Beispiel an Gastronomen in Wien vermitteln, gegen eine Gebühr. "Je größer wir werden, desto mehr Überschüsse können wir retten!", ist Cornelia Diesenreiter begeistert. Ob allerdings die ganze Menschheit lernfähig sein wird wie ihre Mutter? Bei der fliegen wieder die Bienen. Der Traum der Tochter aber, mit ihrem Unternehmen obsolet zu werden, wird sich bei diesen Mengen an Überproduktion noch lange nicht erfüllen. (Manfred Rebhandl, 8.8.2022)